News aus dem Kanton St. Gallen

Nur ein Stück Karton als Dach

von Andrea Kobler
min
20.06.2023
In Altstätten Jugendliche verbringen eine Nacht zwischen Kartonschachteln. Zwar ohne Not, aber im Bewusstsein, dass andere Kinder und Jugendliche auf dieser Welt die Nächte nicht so gelassen verbringen können.

Es ist kurz vor 22 Uhr. In unmittelbarer Nähe der katholischen Kirche St. Nikolaus, im Zentrum von Altstätten, nehmen Jugendliche Kartons und Holzlatten in die Hand und bauen sich in der Zeitvorgabe von einer halben Stunde eine Hütte. In dieser werden sie die Nacht verbringen. «Nacht ohne Dach» ist eine Aktion der Hilfsorganisation TearFund, die im Rahmen des Erlebnisprogramms für junge Menschen auf dem Weg zur Konfirmation umgesetzt wird.

«Wir mussten über schlafende Kinder steigen. Das Schlimme war die Hilflosigkeit, ist es doch kaum möglich, allen zu helfen.»

Enrico Pezzoni, Jugendarbeiter der Kirchgemeinden Rebstein-Marbach, Altstätten und Eichberg-Oberriet, erzählt, wie er Armut in Salvador de Bahia, der drittgrössten brasilianischen Stadt, hautnah erlebt hat: «Wir mussten über schlafende Kinder steigen. Das Schlimme war die Hilflosigkeit, ist es doch kaum möglich, allen zu helfen.» Über den Lebensstandard der acht Milliarden Menschen dieser Welt entscheidet der Geburtsort, wie die Jugendlichen an diesem Abend erfahren. Ist der Start ganz unten, ist die Chance ungleich kleiner, die Armut hinter sich zu lassen und ein Leben zu bestreiten, wie die Mehrheit es bei uns gewohnt ist.

Angst als ständiger Begleiter
Auch in Perus Hauptstadt Lima sind Kartons für viele Kinder und Jugendliche in ihrer Schlafstätte Schutz gegen Wind und Wetter. Lena Küng, die in der Nacht in Altstätten als Leiterin dabei ist, hat selbst ein Jahr in Peru gelebt. «Im drittgrössten Land Südamerikas ist vieles nicht fair. Trotzdem sind die Menschen sehr offen und inspirierend», erzählt sie. Im negativen Sinn erstaunt war sie über die Schulbildung. Der Uni-Abschluss sei auf dem Niveau unseres Sekundarschulabschlusses. Das Leben sei geprägt von Kriminalität, Angst und Unsicherheiten. «Du weisst auch am Tag nie, ob du ausgeraubt wirst. Wir wissen gar nicht, wie privilegiert wir in der Schweiz sind, können wir doch zum Beispiel ohne die Angst einer Entführung in ein Taxi steigen», erzählt sie.

«Bei Regen wäre es noch spannender gewesen.»

Vieles von dem, was Lena Küng selber erfahren hat, haben die Oberrheintaler Jugendlichen vor dem Bau der Hütten in einem Video von TearFund gesehen. Die Hilfsorganisation setzt sich für die Verbesserung der Berufsbildung in der Region Apurímac im Hochland Perus ein und schafft damit für Jugendliche eine Perspektive.

Ohne Angst von der Sonne geweckt
Zurück im Rheintal. Die Sterne funkeln am Himmel. Nach vielen Regentagen ist es trocken, die Temperaturen sind angenehm. Doch auch Regen hätte die Jugendlichen nicht abgeschreckt. «Dann wäre es noch spannender gewesen», glaubt Sarina, und Zoe vermutet, dass sie bei Regen schneller eingeschlafen wäre. Für viele ist es die erste Nacht im Freien. Lydia ist das zweite Mal dabei, weil es das erste Mal so eindrücklich gewesen sei, «und weil wir die halbe Nacht zusammen reden konnten.» Hin und wieder werden die Schlafenden von Kirchenglocken oder von Passanten geweckt, die lächelnd, staunend und fragend an den Kartonhütten vorbeilaufen. Einige wenige diskutieren mit den Leitern, die Nachtwache schieben. Die Nacht verläuft friedlich, Angst haben die Jugendlichen keine. Am Morgen werden sie von der Sonne geweckt und der Hunger wird beim gemeinsamen Frühstück gestillt, während man sich über eine Nacht austauscht, die das Bewusstsein für die weltweite Armut schärfte. «Es war spannend, zu erleben, mit welchen Schwierigkeiten sich ärmere Menschen auseinandersetzen müssen», so Dominik.

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