News aus dem Kanton St. Gallen

Einschliessen, nicht ausgrenzen

von Katharina Meier
min
29.04.2024
Conny Abderhalden steht kurz vor der Abreise in die Ferien. Nichts Ungewöhnliches. Doch die Reise ist anders. Es sind Badeferien für Menschen mit einem Handicap.

«Wiederum sind zwei Frauen mit einer Hirnverletzung dabei», sagt die 64-Jährige. Nach Italien reisen auch acht Rollstuhlfahrer, Lern-, Geh- und psychisch Kranke mit. Siebzehn sind es an der Zahl. Sie kommen aus der ganzen deutschsprachigen Schweiz und sind 16 bis 82 Jahre alt. Vier pensionierte Pflegefachfrauen und vier Helfende betreuen sie. Connys Mann Werner und Beni chauffieren, und, wo nötig, reparieren sie die Rollstühle. 

Eine Frau, eine Scheune, ein Erfolg 

Dreimal im Jahr führt Conny Abderhalden solche Ferien durch, alles auf privater Basis. «Die Gemeinschaft ist mir das Wichtigste.» Da sei Lebensfreude, Dankbarkeit, Zugehörigkeit spürbar,die zum Greifen sowie ergreifend und mit keinem Geld der Welt aufzuwiegen seien. Die erste Reise fand 2007 statt. Damals war Conny Abderhalden bereits ein Jahr Geschäftsleiterin der «Schüür» in Brunnadern – einem Gastrobetrieb, geführt von Menschen mit und ohne Handicap. Unter Conny Abderhalden wurde die «Schüür» zur Erfolgsgeschichte. Das «St. Galler Tagblatt» titelte 2014: «Eine Frau, eine Scheune, ein Erfolg».

Es ging mir immer um die Inklusion, niemand sollte ausgegrenzt werden.

Der Weg dorthin war jedoch nicht leicht. 2006 hatte die gebürtige Lütisburgerin die Idee, ein Restaurant zu eröffnen, geführt von Freiwilligen und Menschen mit einem Handicap. «Zu Beginn bin ich belächelt worden», erinnert sie sich. Sie stellte ein Konzept auf, ein Budget, um von der Gemeinde ernstgenommen zu werden und um leerstehende Räume zu bekommen. Geschlagene fünf Monate wartete Conny Abderhalden auf den Entscheid. Sie hatte das Ganze schon beinahe wieder vergessen. Doch plötzlich kam der Anruf und mit ihm die Zusicherung für die leere Scheune inmitten Brunnaderns.

«Es geht um Wertschätzung»

Zuerst wirkte der Betrieb improvisiert. Doch als Conny Abderhalden 2023 aufhörte, war die «Schüür» ein einzigartiges Vorzeigeprojekt in der Schweiz. Die «Brunnödligerin» führte anfangs mit zehn bis zwölf Menschen mit speziellen Fähigkeiten, wie Abderhalden sagt, das Restaurant. Die Kaffeemaschine schleppte sie zu Beginn von zu Hause her mit. Der Stundenlohn betrug 1,27 Franken. Doch immer wieder standen ihr Gutgesinnte zur Seite. Die UBS verhalf ihr zu Tischen. Die Kantonalkirche griff ihr beim Umbau finanziell unter die Arme. Freiwillige unterstützten die Idee. Täglich stand die ehemalige Sekretärin in der «Schüür», sorgte für das Wohlsein der Gäste beim «Chilekafi», bei Gesellschaftsanlässen, Mittagessen oder Unterhaltungen. Zentrum aber waren die Menschen mit einer Beeinträchtigung. Sie mussten mithelfen, dekorieren, rüsten, servieren, putzen, die Kasse bedienen. Nicht immer blieb es ohne Murren, doch auch das gehörte dazu. Und mit der Zeit entdeckten sie an sich neue Talente und waren stolz darauf – auf sich. Das Selbstwertgefühl stieg.

«Es ging mir immer um die Inklusion. Niemand sollte ausgegrenzt werden.» Die handicapierten Menschen selbst spürten diesen Rückhalt, die Bestätigung, die Wertschätzung. Und wenn sie am Ende des Tages eine Quittung für ihre Spesen von 20 Franken ausstellen durften und das Zwanzigernötli in den Händen hielten, war da nur Glückseligkeit zu spüren. Ebenso bei der jährlichen Ferienwoche. Denn es ging für Conny Abderhalden nicht nur um Gewinnmaximierung, sondern vor allem um Solidarität mit den Nächsten. Und weil Löhne wegen des Gesetzes nicht ausbezahlt werden konnten, floss ein Teil des Ertrags auf ein Konto, das den Behinderten einen Tapetenwechsel ermöglichte. Personalprobleme kannte Conny Abderhalden nur selten. «Hatte die Gesellschaft oder der Gast gar eine Musik engagiert, dann waren die Behinderten begeistert an der Arbeit.» Gerne erinnern sich alle an den Hackbrettauftritt von Nicolas Senn. Im Übrigen, so Abderhalden, sei die Arbeit mit Menschen mit Handicap nicht nur ein Geben. Sie seien sehr sensibel und da fliesse viel gute Energie zurück. «Das geht aber nur im Zusammenspiel.»

Ideen aushecken, verwirklichen

Die besonnene Frau kennt dieses Gefühl seit Kindsbeinen. Ihr jüngster Bruder ist behindert. Immer musste die Schwester mit neuen Ideen aufwarten, um ihren Bruder zu fördern und zu fordern. Ausgleich fand sie im Turnverein und beim Blauring. Schnell leitete sie Lager, absolvierte J+S-Kurse. All dies kam ihr später bei Procap, bei den Schwimmkursen zugute. Ihr kam die Idee, auch Menschen mit Beeinträchtigung bei einem Sporttag mit einer Medaille auszuzeichnen. Sie war es, die es fertigbrachte, diese Mitmenschen in ein Kreisturnfest zu integrieren, ihnen mit der eigens kreierten Wettkampfart Fit & Fun die Teilnahme zu ermöglichen. Immer stand und steht dabei der soziale Gedanke im Zentrum. Auch bei den Weiterbildungen, die sie berechtigen, in der Ostschweiz Prüfungen von Leiteranwärterinnen im Behindertensport abzunehmen und Ferien für Menschen mit Handicap zu organisieren. Und immer heckt Conny Abderhalden Neues aus, schaut weit voraus, hat ein Ziel vor Augen. Demnächst ist es Abano, mit im Gepäck die jüngste Errungenschaft: ein Badelift. Der Reisebus steht bereit. 

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