Cupcakes backen statt Katechismus pauken
Der Anstoss für eine der erfolgreichsten Innovationen der St. Galler Kirche der vergangenen Jahrzehnte kam aus der Not: Der Religionsunterricht auf der Oberstufe wurde halbiert. Nur noch eine Lektion pro Woche sollten die Schülerinnen und Schüler in den ersten beiden Jahren erhalten. «Die Synode wollte die wegfallende Lektion aber nicht ersatzlos streichen», erinnert sich Michael Giger, Jugendbeauftragter der St. Galler Kirche. «Deshalb wurden 2012 die Erlebnisprogramme lanciert.»
Erlebnisprogramme sind kirchliche Aktivitäten für Jugendliche als Vorbereitung für das Konfjahr: Seilpark, Cupcakes backen, Filmabend, Stop-Motion-Filme produzieren, Generationentag, Bibliolog, Iglubauen, Glaubenskurs, Survival-Weekend, Fotoworkshop – die Liste lässt sich endlos weiterführen. «Statt die Schulbank zu drücken», erläutert Giger, «können die Jugendlichen zwischen verschiedenen Angeboten wählen und etwas erleben.» Das komme gut an. «Wer zum Beispiel am Dienstagabend in die Blasmusik oder ins Fussball geht, sucht sich ein Erlebnisprogramm am Wochenende aus.»
St. Galler Exportschlager
Mit den Erlebnisprogrammen lancierte die St. Galler Kirche auch den Pfefferstern, eine Onlineplattform, über die Erlebnisprogramme gebucht werden können. Dabei sammeln die Jugendlichen Punkte, auch Credits genannt, die sie letztlich für die Konfirmation benötigen. Während 30 bis 50 Stunden müssen sie gemäss Kirchenordnung Erlebnisprogramme besuchen, um für den Konfunterricht zugelassen zu werden. Doch das Pflichtprogramm macht Spass: «Es ist sehr häufig», sagt Klaus Fischer von der Projektstelle Junge Menschen in der Kirche, «dass Jugendliche mehr Credits sammeln, als sie benötigen.»
Der Pfefferstern erwies sich als Exportschlager: Kirchen weit über die Kantons- und Konfessionsgrenzen hinaus nutzen mittlerweile das Tool der St. Galler Reformierten. Dadurch wurde das Angebot vielfältiger. Die Jugendlichen können nun auch Anlässe in der Nachbargemeinde oder der katholischen Kirche besuchen. «Diese Regionalisierung war gar nicht beabsichtigt, ist aber eine schöne Entwicklung», sagt Giger. «Man lernt sich über die Gemeindegrenzen hinweg kennen.» Im Pfefferstern sei ja nicht nur der Pflichtweg abgebildet, sondern auch Angebote links und rechts. So entstehe ein Netzwerk von Freundschaften, das oft über die Konfirmation hinaus trage: «Manche gehen später ins Refresh-Camp, andere machen einen Leiterkurs oder sind im Netzwerk Junge Erwachsene der St. Galler Kirche aktiv.»
Die Credits von heute waren die Zettel von damals
Chillen, kochen, Sofakino: So vergnüglich und beschwingt klingt es heute bei den Erlebnisprogrammen für die Jugendlichen und Baldkonfirmierten. Sie können den Neigungen entsprechend Veranstaltungen auswählen und so Punkte sammeln, um das Präkonfirmationsprogramm zu erfüllen. Phantastisch und beneidenswert. Das Wort Chillen brachten wir – wenn überhaupt – in den 1980er-Jahren mit einem Gewürz in Verbindung. Gekocht wurde nie. Vielmehr standen wir bei Bäcker Schindler in der Backstube, übten das Teigflechten, um später die Butterzöpfe ins Altersheim zu bringen. Sofakino? Gab es nicht, dafür die knallharten Sitzbretter der Kirchenbank.
Das schummeln mit den Zetteln
Denn nicht nur den Unterricht galt es zu besuchen, sondern auch zwölf (oder waren es fünfzehn?) Mal den Jugendgottesdienst. Er fand separat statt, nach dem offiziellen Gottesdienst. Dafür liessen die Kirchgemeinden eigens Abreissblöcklein mit Zetteln drucken.
Sie galt es abzugeben, bevor unser Gottesdienst begann. Dabei ging nichts ohne die Mesmerin. Sie stand beim Eingang, spielte Kontrollinstanz und hiess Klärli Reimann. Die kleingewachsene Frau mit dem grauen Wuschelkopf, bewehrt mit gestrickten Kniesocken und einem schweren Jupe, war zwar die Liebenswürdigkeit in Person und weibelte jeweils Jahr für Jahr von Tür zu Tür und sammelte für die Basler Mission. Wenn sie aber die rosaroten und gelben Zettel begutachten musste, war ihr Blick kritisch und sie unerbittlich. Denn es gelang nie, hinterrücks den Zettel auf die Beige im Kirchenbank zu legen und wieder rauszuschleichen. Und bei den abgegebenen Entschuldigungen, die nicht konform unterschrieben waren, liess uns Fräulein Reimanns fragender Gesichtsausdruck erröten.
Nicht Wien, sondern Wengen
Die heutigen Credits waren damals die rosaroten Zettel, unser Erlebnisprogramm der Jugendgottesdienst und das Lager. Hier winkte keine Reise nach Wien. Wengen war das Ziel. Eine Wahl, gar eine Auswahl, kannten wir nicht und gab es nicht. Aber auch wir hatten es vergnüglich, beschwingt und entspannt. Nur nannte man dies noch nicht Chillen.
Mehr als nur Bespassung
Bräteln, Klettern, Kuchen backen: Die Erlebnisprogramme erwecken bisweilen den Eindruck eines Spassprogramms. Wo bleibt da die kirchliche Bildung, die Einführung in die Grundlagen des christlichen Glaubens? Für einen Filmabend oder einen Seilparkbesuch braucht es schliesslich keine Kirche. Michael Giger widerspricht: «Das Erlebnisprogramm ist so gut, wie die Profis es vor Ort umsetzen.» Denn im Zuge der Erlebnisprogramme hätten nahezu alle Kirchgemeinden ihre Jugendarbeit professionalisiert. Wenn jemand Themen des christlichen Glaubens erlebnispädagogisch aufnehme, sei das sehr wohl kirchliche Bildung. «Man hängt zum Beispiel beim Klettern zu zweit am Seil und erfährt dabei, was Vertrauen heisst. Oder man hilft beim Kindertreff mit und merkt dabei, dass die Kirche davon lebt, dass alle mit anpacken und sich einbringen.»
Vom Erlebten lasse sich eine Brücke schlagen zu theologischen Themen. Der Sarganser Sozialdiakon Ralf Rupf etwa besichtigte mit den Jugendlichen eine Kehrichtverbrennungsanlage. «Da geht es um Bewahrung der Schöpfung, den Umgang mit Müll», erläutert er. «Darüber hinaus konnten wir auch den Bogen spannen zur Frage, wie wir mit unserem seelischen Müll umgehen. Wo kann man diesen entsorgen?» So hätten sie den Bezug zur Spiritualität hergestellt, sagt Sozialdiakon Rupf.
Auch Klaus Fischer kann mit dem Vorwurf wenig anfangen, durch die Erlebnisprogramme gehe kirchliche Bildung verloren. «Die Jugendlichen haben ja parallel dazu immer noch Religionsunterricht», gibt er zu bedenken. Und dieser kommt bei den Schülern laut einer Studie der Universität Zürich gut an. Sie untersuchte von 2021 bis 2023 Bildungsangebote für Kinder im Primarschulalter in reformierten Kirchgemeinden. Die Kinder hätten Freude, die Angebote seien vielfältig und die Mitarbeitenden hoch motiviert, befand die Studie, bei der über 500 Kinder und 300 Erwachsene befragt wurden. Nur die Gottesdienste kämen weniger gut an – sie seien langweilig, so die befragten Kinder.
In der St. Galler Kirche steht mittlerweile die nächste Innovation an. Auch dieses Mal kam der Anstoss aus der Not: 2020 entschied die St. Galler Regierung, dass das Fach «Ethik, Religionen, Gemeinschaft» (ERG) nur noch von der Schule und nicht mehr auch von den Kirchen angeboten wird. Der Abschnitt «Lernende Gemeinde» der Kirchenordnung wurde darauf überarbeitet. Ende August schickt ihn der Kirchenrat in die Vernehmlassung. Die Diskussionen hätten gezeigt, so Michael Giger, «dass die Frage, wie viele Pflichtstunden auf dem Weg zur Konfirmation gefordert werden, überdacht werden muss.»
Was brauchen die Jugendlichen?
Obligatorien können auch hilfreich sein, gibt Klaus Fischer zu bedenken. An Religionsunterricht und Erlebnisprogramme seien Stellen von Religionslehrpersonen, Jugendarbeiterinnen und Jugendarbeitern gekoppelt. «Verbindlichkeit schafft Planungssicherheit für die Kirchgemeinden und Stellensicherheit für die Angestellten», erläutert er, «das ist nicht zu unterschätzen.» Allerdings dürfe man dabei die wichtigste Frage nicht aus den Augen verlieren: «Was brauchen die Jugendlichen auf ihrem Weg zur religiösen Mündigkeit?»
Cupcakes backen statt Katechismus pauken