News aus dem Kanton St. Gallen
Gastbeitrag von Matthias Zehnder

Zu welchem Stamm gehören Sie?

von Matthias Zehnder
min
20.01.2024
Wir definieren uns immer weniger über unsere Abstammung, fühlen uns aber immer mehr einem Stamm zugehörig. Das klingt paradoxer als es ist. Ein Gastbeitrag von Matthias Zehnder.

In der Bibel spielen die «Stämme Israels» eine grosse Rolle. Sie werden auf die zwölf Söhne Jakobs zurückgeführt. Es ist entscheidend, zu welchem Stamm ein Mensch gehört. König David zum Beispiel ist in Bethlehem als jüngster Sohn von Isai geboren und gehörte dem Stamm Juda an. «Stamm» ist ein seltsames Wort. Natürlich kennen wir das Wort vom «Baumstamm». Der «Volksstamm» ist uns aber heute kaum mehr geläufig. Wenn in der Bibel von den zwölf Stämmen Israels die Rede ist, wandern unsere Augenbrauen hoch – und junge Leserinnen und Leser verdrehen die Augen. Wie altmodisch.

Wenn in der Bibel von den zwölf Stämmen Israels die Rede ist, wandern unsere Augenbrauen hoch – und junge Leserinnen und Leser verdrehen die Augen. Wie altmodisch.

In der Bibel hat der «Stamm» mit der Abstammung zu tun, also mit dem Stammbaum. Der kümmert uns Heutige in der Regel herzlich wenig. Abgesehen von ein einigen Genealogie-Fans kennen die meisten Menschen wenig mehr als ihre Grosseltern. Nein, wir definieren uns nicht mehr über die Abstammung.

Das heisst aber nicht, dass Stämme nicht mehr wichtig wären. Denn ein Stamm zeichnet sich nicht nur durch eine gemeinsame Abstammung aus. Ebenso wichtig sind Sprache und Kultur, Denkweise und Werte – also das, was wir als Identität bezeichnen. Stämme in diesem Sinn sind wichtiger denn je.

Besonders stark zu sehen ist das derzeit in den USA. Im Land leben zwei grosse Stämme, die sich zunehmend unversöhnlich gegenüberstehen. Sie definieren sich durch ein ganzes Bündel von Haltungen. Für die einen ist das Recht auf Abtreibung selbstverständlich; gleichgeschlechtliche Paare sollen heiraten können und Kinder haben; Amerika soll ein offenes und gastfreundliches Land sein und die Schuld anerkennen, die das Land durch die Sklaverei auf sich geladen hat. Für die anderen ist jedes Leben von Gott geschenkt und die Beschränkung der Abtreibung durch den Obersten Gerichtshof ein Segen; eine Familie besteht aus Mann und Frau; die starke Einwanderung bedroht die Identität von Amerika und verwässert die zentralen Werte des Landes; auf die Geschichte des Landes sind sie stolz, auch wenn sie düstere Kapitel enthält. Die einen, das ist der blaue Stamm, also die Demokraten, die anderen, das ist der rote Stamm, die Republikaner.

Romeo und Julia stammen heute aus einer republikanischen und einer demokratischen Familie.

Zum Stamm werden die Parteien, weil sie längst mehr sind als das: Sie stehen nicht mehr für einzelne Haltungen und Antworten in Sachfragen, sondern bündeln moralisch aufgeladene Haltungen zu Identitäten. Vielen Menschen in den USA ist es egal, welche Religion oder welche Hautfarbe der Partner der Tochter oder des Sohns hat. Sie können es sich aber nicht mehr vorstellen, dass ihr Sohn oder ihre Tochter ein Mitglied der «anderen» Partei heiratet. Romeo und Julia stammen heute aus einer republikanischen und einer demokratischen Familie.

Und wie ist das bei uns? Können Sie es sich vorstellen, dass Ihre Tochter ein Mitglied der Partei am anderen Ende des politischen Spektrums heiratet? Dass Ihr Sohn mit einer Aktivistin oder einem Aktivisten des «anderen» Lagers ausgeht? Die Wahrscheinlichkeit, dass sie oder er das tut, ist auch bei uns geringer geworden. Allerdings ist in unserem Vielparteiensystem die Parteizugehörigkeit weniger wichtig als im bipolaren System der USA.

Dafür ist bei uns entscheidend, ob Sie in der Stadt wohnen, ein Kistenvelo besitzen und ihre Lebensmittel unverpackt einkaufen, oder ob Sie auf dem Land wohnen, zwei Autos vor dem Haus stehen haben und sich die Einkäufe von einem Onlineshop liefern lassen. Gegenseitig finden sich die beiden Gruppen schrecklich. Und dumm.

Und dann sind da natürlich noch all die Accessoires des modernen Lebens. Welche Marke hat Ihr Handy? Besitzen Sie einen Mac oder einen PC? Telefonieren Sie mit Swisscom oder mit Sunrise? Fahren Sie mit dem Zug in die Ferien oder fliegen Sie? Schreiben Sie Ihren Liebsten aus den Ferien WhatsApp-Nachrichten oder Postkarten? Glauben Sie ja nicht, dass das nur sachliche Entscheide wären.

Nein, es spielt keine Rolle mehr, welche Abstammung Sie haben. Trotzdem identifizieren sich wieder mehr Menschen mit einem Stamm. Dem Stamm der Grünen oder der anderen Grünen. Dem Stamm der Velofahrer oder der Autobahnbefürworter. Diese Art der Identifikation gibt in einer komplizierteren und sich rascher verändernden Welt jenen Halt, den schon David fand, indem er sich auf Juda berief. Seit ich das gemerkt habe, bleibt meine Augenbraue unten, wenn ich von den «Stämmen Israels» lese. Und Ihre?

 

Matthias Zehnder

Matthias Zehnder, Foto als Bleistiftzeichnung. Kurze Haare, dick umrandete Brille, leichtes Lächeln, Hemd und Jacket mit kleinem Pin im Knopfloch

 

 

Matthias Zehnder ist Medienwissenschaftler und Publizist mit Schwerpunktgebiet Digitalisierung und künstliche Intelligenz. Er hat zahlreiche Bücher geschrieben, publiziert und hält Vorträge und Seminare rund um Computer, Geist und Ethik.

www.matthiaszehnder.ch

Unsere Empfehlungen

Kirche und Biodiversität

Kirche und Biodiversität

«Unterstützt die Evangelische Landeskirche auch die Biodiversitätsinitiative?», so wurde ich kürzlich angefragt. Die Frage ist nicht ganz unberechtigt. Ein Gastbeitrag von Christina Aus der Au.
Die zwei Hunderternoten

Die zwei Hunderternoten

Kathrin Bolt, Pfarrerin der Kirche St.  Laurenzen, St.  Gallen, suchte im Gottesdienst zwei Freiwillige und überreichte ihnen je hundert Franken. Meie Lutz, eine der Beschenkten, schreibt über dieses Erlebnis und den Auftrag, den sie dabei erhielt.
Vergesst die Feste nicht!

Vergesst die Feste nicht!

Noch ein halbes Jahr, bevor ich in Rente gehe. Fast 40 Jahre im Pfarrberuf. Was macht mir Freude? Was bereue ich? Was wünsche ich der Kirche? Ein Gastbeitrag von Martin Dürr.
Es reicht mit der Toleranz!

Es reicht mit der Toleranz!

Darf ein Mensch sich für die Wahrheit töten lassen? Mit dem Tod Alexander Nawalnys ist diese Frage im Jahr 2024 so aktuell wie 1847, als der Philosoph Sören Kierkegaard sie stellte. Ein Gastbeitrag von Christina Aus der Au.