News aus dem Kanton St. Gallen

Worte wie Feuer – von Pussy Riot und von Jeremia

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19.05.2020
Die Propheten im Alten Testament nahmen kein Blatt vor den Mund. Ihre Worte hallen nach bis heute. Von Rorschach bis Moskau.

Am 21. Februar 2012 betreten vier junge Frauen die Christ-Erlöser-Kathedrale, die bedeutendste Kirche Moskaus. Vor dem Altar vollziehen sie ein «Punk-Gebet» und prangern die Verbandelung der russisch-orthodoxen Kirche mit der Autokratie Putins an. Sie rufen: «Mutter Gottes, Jungfrau, verjage Putin!», und: «Der Patriarch glaubt an Putin, obwohl er an Gott glauben sollte.» Das Video geht um die Welt. Die Frauen werden zu drakonischen Strafen verurteilt.

Die Aktion von Pussy Riot hat ein biblisches Vorbild, auch wenn sich die Aktivistinnen dessen wohl gar nicht bewusst waren. Der Viehhirt Amos dringt ins königliche Heiligtum Israels in Bet-El ein und wettert gegen den König und die Oberschicht. Dabei teilt er kräftig aus, verkündet den Tod des Königs und bezeichnet die Reichen als «fette Kühe». Der König lässt sich das nicht bieten. Er schickt seinen Priester zu Amos, der ihn massregelt: Im königlichen Heiligtum sei Kritik am König gefälligst zu unterlassen. Er erteilt Amos ein Hausverbot. Doch dieser lässt sich nicht einschüchtern: Er fühle sich allein Gott verpflichtet und lasse sich den Mund nicht verbieten: Denn Gott selbst habe ihn weggenommen von den Schafen und ihm gesagt: «Gehe, prophezeie meinem Volk Israel.»

Prophetie ist keine Wahrsagerei
Die Geschichte von Amos ist Teil eines erstaunlichen Phänomens im Alten Testament: der Prophetie. Hauptanliegen der Propheten war weniger die ferne Zukunft als das Hier und Jetzt: Schonungslos benannten sie Missstände, legten den Finger auf den wunden Punkt und riefen die Mächtigen zur Umkehr auf. Sie machten also das, was heute im besten Fall die Medien tun, manchmal auch Künstlerinnen wie Pussy Riot. Oder die Basler Fasnacht, einfach nicht so lustig. Aber mit dem Anspruch, Gottes Wort zu verkünden.

 

«Wir haben Gott mehr zu gehorchen als den Menschen.»
Rorschacher Schülerinnen, 1942

 

Frühe Propheten, etwa Amos und Jesaja, prangerten die Heuchelei der korrupten Führungsschicht an, die sich gegen aussen gottesfürchtig gab: «Eure Speisopfer gefallen mir nicht, und euer fettes Schlachtopfer sehe ich nicht an. Weg von mir mit dem Geplärr deiner Lieder!» (Am 5,23-24). Die Schärfe, mit der die eigenen Machthaber kritisiert wurden, war im damaligen Orient einzigartig. Auch Jesaia nahm kein Blatt vor den Mund, als er die Führungsschicht von Jerusalem kritisierte: Diebesgesellen seien sie, «jeder liebt Bestechung und jagt Geschenken nach». Den Waisen und Witwen aber verschafften sie kein Recht. (Jes 1,23)

Niemand steht über dem Gesetz
Die biblische Königskritik macht auch vor den «Stars» nicht halt. So wird König David in Teilen der Bibel als Herrscher ohne Fehl und Tadel dargestellt, etwa in Psalm 18. Doch derselbe David hinterlässt auch einen ausgesprochen ambivalenten Eindruck: Er schwängert die Frau seines Offiziers. Als die Sache aufzufliegen droht, lässt er ihn hinterrücks ermorden. Da hält ihm der Prophet Nathan den Spiegel vor. Denn niemand steht über dem Gesetz, selbst wer für sich in Anspruch nimmt, von Gott geleitet zu sein.

Prophetie in Rorschach
Kritik in der Tradition der alttestamentlichen Prophetie gibt es auch ausserhalb der Bibel. Im Kanton St. Gallen zum Beispiel: 1942 schrieben 22 Rorschacher Sekundarschülerinnen einen Brief an Bundesrat von Steiger, einen leidenschaftlichen Appell, Juden nicht an der Grenze in den sicheren Tod zurückzuschicken: «Wir hätten uns nie träumen lassen, dass die Schweiz, die Friedensinsel, die barmherzig sein will, diese zitternden, frierenden Jammergestalten wie Tiere über die Grenze wirft.» Gottes Wille sei es bestimmt nicht, die Juden abzuweisen. «Doch wir haben Ihm mehr zu gehorchen als den Menschen.» Von Steiger reagierte harsch: Er liess die Mädchen und ihren Lehrer verhören, um herauszufinden, wer sie zum Brief angestiftet hatte. Vergeblich. Sie hatten aus ihrem eigenen Gewissen gehandelt.

Jeder Bundesrat ein Dornbusch?
Die Kritik im Alten Testament betraf nicht nur den Machtmissbrauch einzelner Könige, sondern die Königsherrschaft an sich. Beis-send ist sie in der Jotamfabel (Ri 9,8-15): Die Bäume wählen einen König aus ihren Reihen. Als Erstes wenden sie sich an den Ölbaum, doch der lehnt ab. Der Reihe nach winken weitere königswürdige Kandidaten ab: der Feigenbaum und der Weinstock. Da bleibt nur noch der Dornbusch übrig. Schatten spendet er kaum, und statt Früchten trägt er Dornen. Doch mangels Alternativen wird er zum König ausgerufen. Der Seitenhieb gegen amtierende Könige ist offensichtlich.

 Was sagt uns die alttestamentliche Prophetie heute? Sind Bundesräte bloss Dornbüsche? Und wie steht es um das Verhältnis der reformierten Kirche zum Staat? Gewiss: Die Schweiz ist zutiefst demokratisch, und der Bundesrat ist kaum mit alttestamentlichen Königen zu vergleichen. Doch wenn selbst dem hochgelobten König David kräftig auf die Finger geschaut werden musste, gilt das für jede Regierung. Das heisst nicht, dass die Kirche zu allem und jedem Stellung beziehen sollte. Doch es kann notwendig sein, als Kirche den Staat zu kritisieren, als Christinnen und Christen den Finger auf den wunden Punkt zu legen. Wie die Rorschacher Schülerinnen. Denn im wahren Wort liegt eine grosse Kraft: Das Wort werde den Beton sprengen, sagte eine Aktivistin von Pussy Riot im Schlussplädoyer vor Gericht, indem sie den Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn zitierte. Sie hätte auch den Propheten Jeremia zitieren können: «Siehe, ich mache meine Worte in deinem Mund zu Feuer.»

Text: Stefan Degen | Foto: imago images / ITAR-TASS - Kirchenbote SG, Juni-Juli 2020

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