Wo wohnt Gott?
Laut dem Bundesamt für Statistik wohnt ein Mensch in der Schweiz durchschnittlich auf 45 m². Auf diesem Raum sollen die Grundbedürfnisse befriedigt werden können. Aber wohnen ist mehr als kochen, (sich) waschen, schlafen und Besuch empfangen zu können. Es gehört Behaglichkeit dazu, die jeder Mensch anders interpretiert. Hier der Landhaus-Stil mit Rüschenvolants, dort lieber kühl in Schwarz-Weiss.
Im Alten und im Neuen Testament begegnen wir verschiedenen Wohnformen. Da hören wir von Nomaden, welche von Weideplatz zu Weideplatz ziehen und ihre Zelte dort aufstellen, wo ihre Tiere Nahrung finden. Wenn von Ackerbau, Sämann und Fischer die Rede ist, wird eher ein fester Wohnsitz vorausgesetzt. Weil Menschen immer schon um die Notwendigkeit wussten, irgendeinen Ort zu haben, wo sie – wenn auch nur temporär – hingehören, wurde dieses Bedürfnis auch auf den biblischen Gott übertragen. Jedoch so eindeutig sind jene Wohnverhältnisse nicht zu klären …
Ich sitze in der Kirche, bin allein und gehe meinen Gedanken nach. Wir nennen dieses Gebäude auch Gotteshaus. Ist hier denn die Begegnung mit Gott eher möglich als anderswo? Finde ich Gott hier, innerhalb dieser Mauern, mit den farbigen Glasfenstern, die keinen Blick nach aussen zulassen? Offenbar wohnt Gott hier, und auch nicht. Dieser Spannung können wir nicht ausweichen. «Gott ist gegenwärtig» und «Unser Vater im Himmel». «Gott ist, wo man ihn einlässt» und «Gott ist in der Natur». «Gott ist über uns» und «Gott ist, wo man sein Wort predigt». «Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.»
«Herr, komm in mir wohnen, lass mein Geist auf Erden dir ein Heiligtum noch werden», schrieb der Kirchenlieddichter und Mystiker Gerhard Tersteegen. Vertraut, diese Strophe, aber verstehe ich diese engste Verbundenheit, dass Gott in mir Wohnung nehmen kann? Und welchen Raum beansprucht er da? – Und inmitten dieser Gedankenfetzen und Liedstrophen fällt mir ein, dass sogar König Salomo, Bauherr des Tempels in Jerusalem, der prächtigen Wohnstätte Gottes und auserlesenem Ort der Verehrung, zuerst zögerlich war. In seinem Tempelweihgebet (1. Könige 8, 22 ff.) stellt er nämlich angesichts des Baus die Frage: «Aber sollte Gott denn wirklich auf Erden wohnen? Himmel mögen dich nicht fassen, wie viel weniger dieses Haus, das ich gebaut habe.»
Ich bin froh, finden wir in der Bibel die Wohnung Gottes nicht. Das ist kein Nachteil, sondern einfach angemessen. Denn wer immer sich über die Gegenwart Gottes äussert, bringt nur Vorstellungen zur Sprache und offenbar hat sich nie jemand befähigt oder gezwungen gesehen, etwas vereinheitlichen zu wollen. Die Bibel selber benutzt Wendungen, wo Gott «sei»: Gott ist im Himmel, im Tempel, im Menschen, in Jesus. Genauso finden wir auch das Gegenteil, wenn wir erfahren, dass Gott nicht einfach hier oder dort ist, er nicht Teil unserer irdischen oder himmlischen Welt ist – oder doch? – Wie einfach wäre es, könnte man einfach die 45 m² Gottes ausmachen. Aber alle diese Versuche sind immer gescheitert, weil sie Gott einfangen. Jener aber will wohnen, gegenwärtig sein in einer Art und Weise, die unser Verständnis von Wohnen nie erfassen kann.
Wo wohnt Gott? Auf jeden Fall dort, wo Menschen wohnen, lieben, suchen, finden, streiten, leiden, Trost und Frieden finden. Ohne Menschen ist sogar ein Gotteshaus gänzlich unbewohnt, weil Gott nicht einzig für sich eine Wohn- statt braucht, sondern sich für die Menschen und bei den Menschen niederlassen will.
Text: Susanne Hug-Maag, Pfarrerin Nesslau | Foto: meka – Kirchenbote SG, September 2016
Wo wohnt Gott?