News aus dem Kanton St. Gallen

Wo Kinder einander vertrauen lernen

von Stefan Degen
min
30.12.2024
Christliche Werte wachsen nicht auf den Bäumen. Sie werden ausgehandelt und weitergegeben. Annelies Krieg, Religionslehrerin im unteren Toggenburg, erläutert, wie Kindern Werte vermittelt werden, welche Rolle biblische Geschichten dabei spielen und welches Thema die Kinder besonders interessiert.

Frau Krieg, wie vermittelt Religionsunterricht Werte?

Kürzlich habe ich den Kindern die Geschichte von Bartimäus erzählt, dem blinden Bettler, den Jesus heilte. Ich habe den Zweitklässlern die Frage gestellt, wie sie helfen können, wenn jemand kaum sehen kann. Vielleicht können sie jemandem über die Strasse oder beim Einkaufen helfen. Vielleicht können sie etwas entziffern, das so klein geschrieben ist, dass er es nicht lesen kann.

Die Geschichte animiert sie also dazu, ihren Mitmenschen zu helfen.

Ja. Wie Jesus Bartimäus geholfen hat, so können die Kinder auch anderen Menschen helfen. Der Unterricht ging aber darüber hinaus: Ich verband den Kindern die Augen und sie musste sich gegenseitig führen. Da ging es um Vertrauen und auch darum, das Vertrauen nicht zu missbrauchen – also die «blinde» Klassenkameradin nicht absichtlich in einen Kaktus laufen zu lassen.

Dann sass da ein Knabe und sagte: «Ich kann nichts gut.»

Welche Rolle spielen Geschichten im Vermitteln von Werten?

Eine wichtige, vor allem in der Unterstufe. Meine Lieblingsgeschichte ist die von Josef im Alten Testament. Seine Brüder hatten eine solche Wut auf ihn, dass sie ihn in einen Brunnen warfen, als Sklaven verkauften und dem Vater erzählten, er sei tot. Und trotzdem gelang es Josef und seinen Brüdern am Schluss der Geschichte, sich zu versöhnen. Man muss sich das einmal vorstellen!

Den jüngeren Kindern erzählen Sie viele Geschichten. Und den älteren?

In der Mittelstufe geht es oft um die Kinder selbst, um ihr Selbstbild und um ihre Rolle in der Gemeinschaft.

Wie geht das konkret?

Die Schülerinnen und Schüler mussten aufschreiben, was sie gut können. Dann sass da ein Knabe und sagte: «Ich kann nichts gut.» Ich antwortete: «Das gibt es gar nicht, du kannst ganz bestimmt etwas gut!» Er studierte lange und sagte dann schüchtern, er helfe manchmal seinem Vater beim Metzgen. Ob das denn auch zähle?

Es geht also um Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten.

Ja, und auch um Selbstliebe. Sich selbst akzeptieren zu können ist für Kinder ganz wichtig – und für Erwachsene auch. In einer anderen Übung mussten die Kinder zuerst aufschreiben, was ihnen an sich selbst gefällt, und dann, was ihnen an der Banknachbarin gefällt. Ein Mädchen hatte richtig Mühe. Sie fand, sie sehe nichts Schönes an sich. Ich habe ihr ein paar Inputs gegeben und allen Kindern ein persönliches Kompliment aufs Blatt geschrieben. Bei einem Mädchen habe ich zum Beispiel geschrieben, dass sie fast immer ein Lachen im Gesicht habe und Fröhlichkeit in die Klasse bringe. Die Augen der Kinder leuchteten wie Laternen, als sie die Komplimente lasen. Dabei war ich ehrlich zu ihnen und hatte nur Dinge aufgeschrieben, die ich an ihnen auch wirklich wahrgenommen hatte.

Wie thematisieren Sie religiöse Fragen mit den Kindern?

Wichtig ist, nicht zu missionieren. In der 4. Klasse arbeite ich mit einem Lehrmittel, mit einer Geschichte. «Die Arche um Acht» heisst sie. Sie handelt von drei Pinguinen und hinterfragt Gott auf humorvolle Art. Anhand dieser Geschichte lässt sich gut über religiöse Fragen nachdenken. Wir haben sie vor zwei Jahren sogar mit den Kindern als Musical auf die Bühne gebracht.

Welche Theme interessiert die Schüler und Schülerinnen besonders?

Der Tod ist eines der Themen, das die Kinder interessiert. Schon die Zweitklässlerinnen und Zweitklässer löchern mich mit Fragen dazu. Ich gehe jeweils mit ihnen auf den Friedhof. Ich finde es wichtig, dass man die Fragen der Kinder ernst nimmt und ihnen keine Angst macht vor dem Tod.

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