News aus dem Kanton St. Gallen

Wo harte Schicksale auf eine herzliche Gemeinschaft treffen

von Stefan Degen
min
26.10.2024
Vor 21 Jahren initiierte die reformierte Kirche des Kantons Zürich eine Jugendkirche. Herausgekommen ist die Streetchurch, eine «Caring Community», die sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert. Ein Ort ist dabei besonders wichtig.

«Bin vom Dreck une use
wie de Phoenix us de Asche
Hazetherapie,
gsehn de Rauch no verblasse.»

Ein junger Mann rappt auf der Bühne, hinter ihm ein grosses Holzkreuz. Rund 40 Menschen hören «Spero» zu, wie er in seinem neuen Song «Tüfelskreis» über die Spirale von Gewalt und Drogen rappt – Haze ist der Name einer Cannabissorte. Manche hängen im Sofa, andere sitzen auf Stühlen, manche gehen zwischendurch hinaus. Einige Jugendliche feuern den Rapper an: «Gib ihm, Bruder, gib ihm!» Andere hören aufmerksam der Musik und der anschliessenden Predigt zu. Der kleine Sohn von Musiker Simon Gonçalves macht es sich auf der Bühne gemütlich, schnappt sich ein Mikrofon und tut so, als würde er mitsingen. Ein Mann zwischen 50 und 60 tanzt und ruft zwischendurch auf Englisch: «Jesus, Halleluja, Amen!»

Auf der Bühne der Streetchurch rappt «Spero» seinen neuen Song «Tüfelskreis». Foto: sd

Auf der Bühne der Streetchurch rappt «Spero» seinen neuen Song «Tüfelskreis». Foto: sd


Die Gemeinschaft, die sich zur «Grow Session», dem Gottesdienst der Zürcher Streetchurch, eingefunden hat, ist schwer zu fassen. Wie auch die Streetchurch selbst: Einst als Jugendkirche gegründet, ist sie heute eine Mischung aus Sozialunternehmen, Anlaufstelle und Kirche. «Es gibt kaum einen Ort, wo so viele so unterschiedliche Menschen zusammenkommen», sagt Mitarbeiter Tim Eberli. Das sei faszinierend, aber auch anstrengend. «Es braucht Leute, die diese Spannungen aushalten und sich sagen: Ich gehe da in die Kirche und mute mir das zu.»

Mehr «Caring» oder mehr «Community»?

Die Website der Streetchurch macht deutlich, dass sie zwei Standbeine hat: Da sind einerseits Sozialprojekte wie Arbeitsintegration und begleitetes Wohnen, das «Caring». Anderseits ist da die «Community», die Gottesdienste feiert, Familienausflüge macht und zusammen Ferien verbringt. Frage an Streetchurch-Geschäftsleiter Philipp Nussbaumer: Könnte man die beiden Bereiche ganz voneinander trennen? «Das haben wir uns auch gefragt», sagt er. Sie hätten sich aber bewusst dagegen entschieden, denn es gebe schon Verbindungen: «Einige Jugendliche von der Arbeitsintegration bleiben am Mittwochabend zum Beispiel hier zum gemeinsamen Essen und zur ‹Grow Session›.»

Kein «ICF auf reformiert»

Entstanden ist die Streetchurch vor 21 Jahren, als die reformierte Kirche des Kantons Zürich hippen Freikirchen ein eigenes Angebot entgegenhalten wollte. «Quasi ein ICF auf reformiert», sagt Nussbaumer. Doch es kam anders: Pfarrer Markus Giger, der mit dem Aufbau der Streetchurch betraut war, arbeitete damals im Zürcher Kreis 4. Er wollte etwas für die Jugendlichen vor Ort tun. Das ist bis heute so geblieben. «Alles, was wir machen, ist von den Jugendlichen an uns herangetragen worden», sagt Nussbaumer. «Die Lehrstellensuche hat sie belastet, also haben wir eine Bewerbungshilfe aufgezogen. Menschen kamen mit psychischen Problemen zu uns, also haben wir eine psychologische Beratung eingeführt. Wir stellen zuerst die Frage nach den Bedürfnissen und erst danach die Frage nach unseren Ressourcen.» So entstanden laufend neue Angebote.

Chef-Barista und Sozialpädagoge Ermanno Vattolo serviert Geschäftsleiter Philipp Nussbaumer (vorne rechts) einen Cappuccino. «Die Kaffeebar ist unser Dorfbrunnen», sagt Nussbaumer. Foto: sd

Chef-Barista und Sozialpädagoge Ermanno Vattolo serviert Geschäftsleiter Philipp Nussbaumer (vorne rechts) einen Cappuccino. «Die Kaffeebar ist unser Dorfbrunnen», sagt Nussbaumer. Foto: sd


Werkstatt und begleitetes Wohnen

Im sozialen Bereich liegt der Schwerpunkt auf Arbeitsintegration. Das Programm «Top4Job» bietet eine Tagesstruktur und bereitet auf die Lehre vor. Daneben gibt es Lerncoaching, Bewerbungshilfe, Sozialberatung, Psychotherapie, Seelsorge und begleitetes Wohnen. An verschiedenen Arbeitsplätzen werden die Jugendlichen auf die Berufswelt vorbereitet: In der Werkstatt werden Bilderrahmen hergestellt, verpackt und verschickt, die betriebseigene Sozialfirma bietet einen Reinigungs- und Umzugsservice an, es gibt Arbeit in der Küche und an der Kaffeebar.

Die Kaffeebar. Bei ihr schlägt das Herz der Streetchurch. «Sie ist unser Dorfbrunnen», sagt Geschäftsleiter Nussbaumer. Im «Barista Lab», wie er es nennt, lernen die Jugendlichen alles über den Kaffee und seine Zubereitung, sagt Chef-Barista und Sozialpädagoge Ermanno Vattolo, während er ein perfektes Muster in den Cappuccino zaubert. «Wir haben extra eine zweite Maschine zum Üben.»

«Alli sind huere nett»

An der Kaffeebar findet der erste Kontakt statt, wenn man die Streetchurch betritt. Ein Kontakt, der bei vielen Jugendlichen Eindruck hinterlässt: «Alli sind huere nett gsi», erinnert sich eine junge Frau, «sie haben mich extrem herzlich empfangen.» Sie hatte ihre Lehre abgebrochen und wusste nicht, wie weiter. Eine Freundin empfahl ihr die Streetchurch: «Dort helfen sie dir.» Das sei aber nicht einfach ein Ort, wo man Bewerbungen schreibe. «Es ist viel mehr: Man lernt Leute kennen, die einen weiterbringen, auch als Mensch. Es ist wie eine Familie.»

Jayden Brobbey (links) kam über das Arbeitsintegrationsprogramm «Top4Job» zu Streetchurch, machte anschliessend eine Lehrstelle bei der katholischen Kirche und arbeitet heute auf der Verwaltung. Der Streetchurch ist er nach wie vor verbunden. Foto: sd

Jayden Brobbey (links) kam über das Arbeitsintegrationsprogramm «Top4Job» zu Streetchurch, machte anschliessend eine Lehrstelle bei der katholischen Kirche und arbeitet heute auf der Verwaltung. Der Streetchurch ist er nach wie vor verbunden. Foto: sd


Ähnlich erging es dem 22-jährigen Jayden. Er besuchte zuerst das Arbeitsintegrationsprogramm Top4Job und fand dann eine KV-Lehrstelle bei der katholischen Kirche – «obwohl ich reformiert bin». Mittlerweile hat er die Lehre abgeschlossen. Der Streetchurch fühlt er sich aber nach wie vor verbunden.

Die «Grow Session» – der Mittwochabendgottesdienst der Streetchurch – beginnt mit einem gemeinsamen Essen. Es gibt Pommes mit Chicken Wings und Salat. Das Essen ist gratis, niemand verlangt, dass man danach auch beim Gottesdienst dabei ist. So herrscht den ganzen Abend über ein buntes Treiben. Jugendliche vom «Top4Job» sind da, Mitarbeitende der Streetchurch, Gottesdienstbesucher jeden Alters, Menschen von der Gasse. Viele Jugendliche reisen auch von ausserhalb der Stadt Zürich an. So wie Jara, Nik und Tobias aus Gossau ZH. Tobias hat einst Zivildienst in der Streetchurch geleistet, Jara und Nik sind zum zweiten Mal hier. Etwa 50 Menschen haben sich zur «Grow Session» eingefunden.

Nicht nur Stadtzürcher Jugendliche kommen zur Streetchurch. Tobias, Jara und Nik sind extra aus Gossau ZH an die «Grow Session» gereist. Foto: sd

Nicht nur Stadtzürcher Jugendliche kommen zur Streetchurch. Tobias, Jara und Nik sind extra aus Gossau ZH an die «Grow Session» gereist. Foto: sd


Jahresbudget von fünf Millionen

Das vielfältige Angebot der Streetchurch hat seinen Preis. Über 40 Mitarbeitende beschäftigt die Institution und verfügt über ein Jahresbudget von über fünf Millionen Franken. Rund die Hälfte stammt von der reformierten Kirchgemeinde der Stadt Zürich. Der Rest kommt durch Aufträge der Sozialfirma und Beiträge von IV und Sozialämtern rein. «Dank des Beitrags der Kirche können wir vereinzelt auch Plätze anbieten, die nicht von den Ämtern finanziert sind», sagt Tim Eberli, der als Bildungscoach Jugendliche begleitet. «In anderen Sozialfirmen ist das undenkbar.»

Den Teufelskreis durchbrechen

Es sind Menschen mit schweren Schicksalen, die ihren Weg in die Streetchurch finden. Eberli erzählt von von Einsamkeit, Drogen und fehlender Geborgenheit. Manche sind schon als kleine Kinder in einem Heim gelandet. «Dann geht es von einer Institution zur nächsten. Irgendwann landen sie als Jugendliche auf der Strasse und kommen mit dem Gesetz in Konflikt.»

Inmitten all dieser schweren Umstände, die in der Streetchurch zusammenkommen, wünsche ich mir manchmal mehr Leichtigkeit und Hoffnung. Das würde uns allen guttun.

Spero, der Rapper von der «Grow Session», der sich selbst mithilfe der Streetchurch durch schwierige Verhältnisse gekämpft hat, habe es in seinem Song auf den Punkt gebracht: «Es ist ein Teufelskreis.» Inmitten all dieser schweren Umstände, die in der Streetchurch zusammenkämen, wünsche er sich manchmal mehr Leichtigkeit und Hoffnung, ohne die Probleme schönreden zu wollen, sagt Eberli: «Das würde uns allen guttun.»

Keine Altersguillotine

Die Streetchurch ist als Jugendkirche gestartet. Ist sie das immer noch? «Gute Frage», sagt Geschäftsleiter Nussbaumer nachdenklich. «Teenager, die vor 21 Jahren beim Start der Streetchurch dabei waren, haben nun eigene Kinder. Unsere Gemeinschaft wandelt sich, auch die Bedürfnisse.» So hätten sie begonnen, während den «Grow Sessions» ein Kinderprogramm aufzuziehen. Ist es denn eine Option, eine Alterslimite einzuführen, um den Charakter als Jugendkirche zu erhalten? «Wir haben uns bewusst dagegen entschieden», sagt Nussbaumer, «wir schliessen niemanden aus. Wir vertrauen darauf, dass sich die Streetchurch verändert – das ist auch gut so –, der Geist, die DNA aber erhalten bleibt.»

Hier geht es zum Fadegrad-Podcast mit Streetchurch-Gründer Markus Giger

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