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«Wir machen keine Buddhisten»

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01.01.2016
Er sitzt im Lotossitz auf dem Stuhl, überall: «Auch im Restaurant,» sagt er – und demonstriert, wie unbequem für ihn das «normale» westliche Sitzen geworden ist. Marcel Geisser, ist ein Zen-Meister; er gründete 1986 in Wolfhalden das buddhistische Meditationszentrum Haus Tao.

WOLFHALDEN AR. – Das «Haus Tao» liegt am Waldrand, an einem Bächlein inmitten eines traumhaft schönen Zen-Gartens – die ideale Idylle für meditative Praxis.

Institutionsmüde
Buddhismus übt auf westliche Menschen eine romantische Faszination aus: Stars wie Richard Gere sind bekennende Buddhisten. Allerdings, so Marcel Geisser: «Relativ wenige Christen treten zum Buddhismus über.» Vielmehr basteln sie sich einen Mix aus verschiedenen Religionen.

«Viele Menschen sind institutionsmüde», analysiert Marcel Geisser. Es herrsche eine Riesensehnsucht nach einer Universalreligion, in der man alles finde. Aber: «Wir machen keine Buddhisten», lacht er. «Wir missionieren nicht, das wäre ohnehin ein sehr harter Boden. Aber viele sagen, seit sie mit dem Buddhismus vertrauter seien, verstünden sie das Christentum besser.»

Das grosse Hindernis: «Keine Zeit»
Marcel Geisser sieht den Zustrom zum Buddhismus, die Begeisterung der Massen für den Dalai Lama, als Teil einer Welle. Schon in den 1920-er Jahren sei Buddhismus für Europäer ein Faszinosum gewesen. Die Menschen fühlten sich heute oft nicht mehr vertreten von christlichen Institutionen, die nicht ausführten, was sie predigten. Dazu komme die Begeisterung für etwas Neues.

In der Meditation habe man jedoch nie ausgelernt, sagt Marcel Geisser. Jeder Mensch könne meditieren, ausser bei schweren psychischen Störungen, wie beispielsweise Schizophrenie; psychische Stabilität sei eine Voraussetzung. Meditation sei auch nicht altersabhängig.
«Das grosse Hindernis für viele Menschen ist ihr Lebensmuster – vermeintlich ‹keine Zeit› zu haben.» Es gehe nicht darum, den Gedankenfluss ganz auszuschalten: «Wir wollen den Gedankenstrom nicht als Feind betrachten, sondern einfach als nicht mehr so wichtig nehmen. Ausschlaggebend ist die Überwindung der Egozentrik. Es geht nicht, darum, zu verdrängen. Es ist wie bei Turbulenzen in einem Teich: Wenn nichts aufgewühlt wird, setzen sich die trübenden Partikel von selber.» Den Fortschritt misst man, wenn überhaupt, im Gleichmut; das Auf und Ab ist nicht so ausschlaggebend.

«Stille im Kopf»
Man lasse nicht die Welt hinter sich, sondern erziele mitten im Trubel «Stille im Kopf». Eine Aktion aus der Stille heraus hat mehr Qualität als eine aus Hektik entstandene.

Menschen fällten oft kurzsichtige Entscheide und korrigierten dann ständig die Fehler von einst; es fehle die Fähigkeit, grosse Zusammenhänge zu erfassen. «Stille gibt diese nicht fragmentierte Weite,» sagt Marcel Geisser. Das habe Auswirkungen aufs Setzen von Prioritäten.

Weniger Egozentrik
Ziel sei weniger Egozentrik, Freiheit von Egomanie. Marcel Geisser vergleicht die Jagd nach Schnäppchen, Gier und Geiz mit egozentrischer Ellbogenmentalität. Die Vision sei, so zu leben wie Buddha – oder wie Christus. Oft hapere es an der persönlichen Umsetzung. Es gehe keineswegs darum, spartanisch in einer Höhle zu leben. Die Limite sei dort, wo persönliches Wohlergehen auf Kosten anderer gehe.

Für die Lehrtätigkeit von Marcel Geisser gibt es keinen «Tarif»; seinen Lebensunterhalt verdient er sich durch Spenden der Kursteilnehmer: «Wenn wir Kurse organisieren, habe ich keine Ahnung, ob ich etwas dafür erhalte oder nicht. Die Idee, es müsse ‚rentieren‘, ist mir fremd geworden. Es geht um Vertrauen und es funktioniert wunderbar.» 

Text: Margrith Widmer, Teufen i Foto: zVg – Kirchenbote SG, Juli / August 2015

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