«Wir dürfen diese Szenen auf keinen Fall verharmlosen»
Kinder Gottes, Hara Krishna oder Verschwörungstheorien? Was macht eine Sekte zu einer Sekte? Der Sektenexperte Georg Otto Schmid erklärt: «Die Religionswissenschaft lehnt den Begriff Sekte kategorisch ab, deshalb gibt es keine wissenschaftliche Definition.» Landläufig hätten sich aber einige Kriterien etabliert, die ganz brauchbar seien: In Sekten bestimme die Leitung alles, sie könne nicht kritisiert werden. Sekten seien exklusiv, sie lehren, dass sie allein den Schlüssel zur Erlösung oder zur Weiterentwicklung der Menschen hätten. Als Sektenmerkmal wird auch die Abzocke oft genannt, und das sehr zu Recht: «Sekten nehmen den ganzen Menschen, dazu gehören auch sein Portemonnaie und sein Bankkonto.»
Schmid kennt die Landschaft der neuen religiösen Bewegungen wie kaum ein Zweiter in der Schweiz. Seit Jahren leitet er Relinfo, die Evangelische Informationsstelle Kirchen – Sekten – Religionen.
Mit christlichen Wurzeln
Doch welche Menschen sind in Sekten zu finden? Die einen Mitglieder wurden bereits in die Sekte hineingeboren, andere treten erst später bei. «Menschen, die freiwillig einer Sekte beitreten, tun dies nicht aus Jux und Tollerei. In der Regel passiert das aus Problemen heraus», so Schmid. Vor Sekten ist keine Altersklasse gefeit. Bei den jungen Menschen seien es oft einsame Frauen und Männer, die keinen Anschluss fänden, vielleicht einen Partner suchten oder neu in der Stadt seien. «Sekten reagieren mit Love Bombing: Sie überschütten die jungen Leute mit Zuwendung. Mit der Zeit muss man diese Liebe aber verdienen.»
Menschen mittleren Alters, die für ihr Empfinden zu wenig Erfolg im Beruf oder in der Partnerschaft haben und sich in einer Sackgassensituation wähnen, werden mit der Verheissung nach Erfolg in allen Lebensbereichen geködert. Und auch die Seniorinnen und Senioren werden umworben: «Bei dieser Zielgruppe ist oft finanziell viel zu holen. Sektenmitglieder besuchen Einsame häufig zu Hause, vermitteln ihnen etwa die Botschaft, dass sie ihre verstorbenen Angehörigen im Paradies wiedersehen werden.»
Waren Scientology oder die Sonnentempler in den 90er-Jahren fast in aller Munde, so geht der heutige Trend laut Georg Otto Schmid weg von den grossen Gemeinschaften zu kleineren Gruppen, egal, ob sektenhaft oder nicht. Die derzeit aktivste christliche Sekte in der Schweiz ist gemäss Schmid Shincheonji, was übersetzt so viel wie «neuer Himmel und neue Erde» bedeutet. Die koreanische Neuoffenbarungsreligion sammelt weltweit eine exklusive Schar an Anhängerinnen und Anhängern, um mit ihnen das Paradies auf Erden zu errichten. Besonders problematisch sei, dass sie junge Menschen mit manipulativen Methoden ködere. So wüssten die Opfer oft über Monate nicht, mit wem sie sich da eingelassen hätten. Als Zielpublikum kämen nur junge Leute in Frage, die gesund seien, heterosexuell, nicht verschuldet, nicht schwanger und mit christlichem Background.
Zurzeit breiten sich laut Schmid Bewegungen aus, die rechtsradikal oder gar rassistisch denken, so der Rodismus, der die vorchristlichen Religionen der slawischen Völker wiederbeleben will, oder Gemeinschaften, die sich auf die alten Germanen beziehen. In manchen dieser Gruppen herrsche der Glaube, dass die «weisse Rasse»überlegen sei und die gesamte Kultur der Menschheit begründet habe. «Im Moment findet das bei uns noch auf kleinem Niveau statt, aber wenn die Szene in der Schweiz so weiterwächst, wird das grenzwertig», so der Sektenspezialist.
Angst vor dem Weltuntergang
Vor genau 30 Jahren schockierte das tödliche Drama um die Sonnentemplersekte die Welt. In der Schweiz und Kanada starben gleichzeitig zahlreiche Menschen, um dem vermeintlichen Weltuntergang zu entgehen. Ist so etwas heute noch denkbar? Georg Otto Schmid: «Leider ja. So eine Tragödie ist dann möglich, wenn eine Gemeinschaft eine konkrete Vorhersage macht, wie eben den Weltuntergang, und diese dann aber nicht eintritt.» Es gebe heute einige radikale Bewegungen, bei denen dies der Fall sei, deshalb sei die Gefahr der Wiederholung grösser als in den letzten 30 Jahren. «Wir müssen diese Szenen sehr ernst nehmen und dürfen sie auf keinen Fall verharmlosen», warnt der Experte.
Aufklären und sensibilisieren
Initiantin des Vortrags ist Rahel Nilsson. Die Pfarrerin kennt Georg Otto Schmid aus der Kommission Neue Religiöse Bewegungen der reformierten Kirche, in der beide Mitglied sind. Die Kommission beobachtet und reflektiert die religiösen sowie weltanschaulichen Bewegungen und Gruppierungen der Gegenwart. Vor kurzem sei sie von einer besorgten Mutter aufgesucht worden, deren Tochter in Zug am See von einer religiösen Gruppierung angesprochen worden sei und nun regelmässig Treffen dieser Gemeinschaft besuche. Von anderen ähnlichen Vorkommnissen ist ihr zwar nichts bekannt, trotzdem findet sie es ein wichtiges Thema. «Allgemein ist es eine nicht einfache Zeit, vor allem für Jugendliche. Da kann ich mir gut vorstellen, dass einige ein gefundenes Fressen für Sekten sind.» Deshalb will Rahel Nilsson mit dem Vortrag von Georg Otto Schmid aufklären und sensibilisieren.
Am Donnerstag, 29. Februar, referiert Georg Otto Schmid im reformierten Kirchgemeindesaal in Cham. Der Vortrag beginnt um 19.30 Uhr, ist kostenlos, eine Anmeldung ist nicht erforderlich.
«Wir dürfen diese Szenen auf keinen Fall verharmlosen»