Wie politisch darf Religion sein?
Vor Jahrzehnten prophezeiten Soziologen und Medien, dass Religion in einer säkularen Gesellschaft nur in der Familie und hinter der Kirchentüre stattfinde. «Religion ist nie nur Privatsache, sondern agiert im öffentlichen Raum», kontert Georg Pfleiderer, Ordinarius für Systematische Theologie/Ethik an der Universität Basel. Deshalb komme es zu Konflikten zwischen religiösen Grundrechten und den Schutzinteressen des Staates, die neu geklärt und ausgehandelt werden müssten. «Entsprechend aktuell ist das Thema».
Die Thementage der Theologische Fakultät gehen vom 10. bis 12 Mai der Frage «Wie politisch darf Religion sein?» nach. Mit dabei sind namhafte Vertreter der Kirche, wie Rita Famos, Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz, Bischof Felix Gmür, der Historiker Georg Kreis und Politiker wie der Basler Regierungsrat Lukas Engelberger oder der Baselbieter Nationalrat Eric Nussbaumer.
Das Gemeinwesen mitgestalten
Für Georg Pfleiderer steht ausser Zweifel, dass Kirche politisch agiert: «Das Gemeinwesen mitzugestalten ist nach reformiertem wie katholischem Verständnis die Aufgabe aller Christinnen und Christen.» Der Knackpunkt ist, wer dies bei politischen Auseinandersetzungen tun sollte: der einzelne Christ? Die Kirchgemeinde? Die Kantonalkirche? Wenn Kirchen oder Gemeinden: sind diese befugt, dies im Namen ihrer Mitglieder zu tun, die verschiedene Meinungen vertreten? Georg Pfleiderer: «Dazu bräuchte es bei kontroversen Themen aus meiner Sicht den Beschluss einer Synode oder besser einer Gemeindevollversammlung. Andernfalls besteht eine Legitimationslücke.» Gerade dies sei bei der Konzernverantwortungsinitiative KVI des öfteren geschehen. Entsprechend fühlten sich Kirchenmitglieder von den KVI-Plakaten an den Kirchtürmern vor den Kopf gestossen. Georg Pfleiderer mahnt die Kirchenleitenden zu mehr Zurückhaltung. Und Gläubige sollten in der öffentlichen Debatte nach vernünftigen Argumenten suchen, statt mit Bibelzitaten oder Moral zu politisieren.
Problematische Einmischung
Darf sich der Staat in religiöse Angelegenheiten einmischen wie beim Tragen einer Burka? Georg Pfleiderer hält dies für problematisch. Das Verbot der Gesichtsverhüllung habe faktisch auf bestimmte Musliminnen gezielt und in deren Glaubensfreiheit eingegriffen. Auch das paternalistische Argument, die Frauen würden dazu gezwungen, lässt der Theologe nicht gelten. Das sei im Einzelfall zu beweisen und könne sicher nicht pauschal unterstellt werden. Georg Pfleiderer führt den Erfolg der Initiative darauf zurück, dass Konservative und säkulare Feministinnen eine unheilige Allianz eingingen. Die Rechte aus «Heimatschutzgründen» und der Sorge vor dem politischen Islam, die Linke, da sie oft ein eher schwach entwickeltes religiöses Sensorium habe.
Gutes Verhältnis zwischen Staat und Kirche
Insgesamt bezeichnet Georg Pfleiderer das Verhältnis zwischen Kirche und Staat als gut. Viele Belange müssten in näherer Zukunft jedoch neu überdacht werden. Etwa die religiöse Bildung. Der Religionsunterricht sei in manchen Kantonen in den Sekundarschulen und in den Gymnasien defizitär. Und die Kirchen könnten beispielsweise in Basel-Stadt den Religionsunterricht in den Primarschulen bald nicht mehr schultern. Da sieht Pfleiderer den Kanton stärker in der Verantwortung. «In einer pluraler werdenden Gesellschaft ist Religionsbildung eine wichtige Kompetenz, für die der Staat besorgt sein müsste.»
Der Staat und das Erbe des Christentums
Auch beim kostspieligen Unterhalt der Kirchengebäude sieht Pfleiderer den Staat gefordert. «Die Kirchen, deren Finanzen zurückgehen, können die historischen Bauten in der Zukunft nicht mehr alleine unterhalten. In dem Masse, in dem die Kirchen schwächer werden, muss sich der Staat um das Erbe des Christentums kümmern», fordert Pfleiderer. Nicht aus Nostalgie, sondern aus einem Eigeninteresse heraus.
Die kleiner werdenden Kirchen dürften wichtige, vitale Player in der Zivilgesellschaft bleiben, blickt Pfleiderer in die Zukunft. «Oftmals übernehmen sie Aufgaben, die ansonsten der Staat und andere Institutionen übernehmen müssten, etwa Mittagstische, Nachbarschaftshilfe oder die Betreuung von Senioren und Flüchtlingen. «Wenn die Kirchen kleiner werden, verschwindet die Religion nicht. Sie wird bunter, oft fremder und vermutlich irrationaler.» Die Handhabung werde dadurch für den Staat schwieriger. Die Landeskirchen könnten ihm da auch künftig verlässliche, bewährte Partner bleiben.
Tilmann Zuber, kirchenbote-online
Weitere Informationen und Anmeldung: www.theologie.unibas.ch
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