News aus dem Kanton St. Gallen

Weltpremiere in St. Gallen

von Peter Hummel
min
26.01.2024
Die Kirche St.  Laurenzen in St.  Gallen ist ein gotisches Bauwerk von nationaler Bedeutung. Die einmalige neue Surroundorgel wird ihr nun sogar zu internationaler Beachtung verhelfen. Der Rundumklang erfüllt den ganzen Raum und zieht wohl viele neue Besucher an. Nach fast achtjähriger Planungs- und Bauzeit wird sie im April endgültig eingeweiht.

Eine Kirchenorgel sollte ja eine Investition sein für mehrere Generationen, wenn nicht eine halbe Ewigkeit. In der Stadtkirche St. Laurenzen bestanden bei der eigentlich noch jungen Kuhn-Orgel von 1978 seit Anbeginn klangliche Unzulänglichkeiten: Vor allem hatte das Instrument eine Bassschwäche, die tiefen Schwingungen hatten keine Kraft, dem Klang fehlte die Körperlichkeit. Ein Gutachten ergab, dass eine Revision der Orgel an diesen Mängeln nur wenig ändern könnte.

Man wird von vier Seiten beschallt: von rechts mit Flötenklängen, von links mit Streicherstimmen, von hinten mit Bässen und von vorne mit Klängen aus der bisherigen Orgel.

Da war der auf 2014 eingesetzte neue Organist Bernhard Ruchti gleich mit einer grossen Aufgabe konfrontiert. Die von ihm initiierte Orgelkommission St. Laurenzen unter der Leitung von Deborah Weber prüfte daher, ob ein Ersatz oder gar eine zweite Orgel sinnvoll wäre.

Als sässe man im Klangkörper

Ruchti fand aber eine Lösung mit einem ganz innovativen Ansatz: Statt Ersatz der bestehenden Orgel sollte sie als Ganzes in ein neues Konzept integriert werden, das den gesamten Kirchenraum einbezieht. Dazu sollten auf den drei Emporen drei neue Pfeifenfamilien, sogenannte Werke, errichtet werden, welche die drei Hauptklangfarben jeder Orgel erzeugen. Zusammen mit der bestehenden Orgel bilden sie ein neues quadrofonisches Gesamtensemble. Fortan wird man in St. Laurenzen von vier Seiten beschallt: von rechts mit Flötenklängen, von links mit Streicherstimmen, von hinten mit Bässen und von vorne mit Klängen aus der bisherigen Orgel. Die Zuhörenden sollen das Instrument räumlich wahrnehmen, so, als sässen sie mitten im Klangkörper. Während in den Medien für dieses Konzept der Begriff Surround- oder 3D-Orgel aufkam, fände Bernhard Ruchti die Bezeichnung Prismenorgel treffender. Denn so, wie ein Prisma das Sonnenlicht aufbricht, so wird der Orgelklang in die einzelnen Klangfarben aufgefächert.

Das Flötenwerk auf der Südempore wird bemalt …

Das Flötenwerk auf der Südempore wird bemalt …

… und leuchtet in der Spektralfarbe Rot, passend zur Idee der Prismenorgel. Fotos: Klaus Stadler

… und leuchtet in der Spektralfarbe Rot, passend zur Idee der Prismenorgel. Fotos: Klaus Stadler

Technisch und finanziell mutig

2016 nahm die Idee zur 3D-Orgel Fahrt auf. Im Sommer 2017 erfolgte der Startschuss: Um dieses in der Orgelbaugeschichte einzigartige Projekt umzusetzen, sicherte sich die Orgelkommission in einem Vorentscheid die Expertise des Schweizer Orgelherstellers Goll. Ein kühnes Projekt – Vorbilder gab es keine. Ein baldiger Akustiktest mit drei Instrumentengruppen auf den Emporen sowie der bestehenden Orgel übertraf alle Erwartungen und bestätigte die Wirkung der Quadrofonie, was für die Behörden der Kirchgemeinde den Ausschlag gab zur Realisierung des Projekts. Angesichts der veranschlagten Kosten von über 2,5 Millionen Franken gab es zwar kritische Stimmen, die das Projekt als «grössenwahnsinnig» bezeichneten. Im Frühling 2019 stimmten die Kirchbürger dem Kredit von 1,1 Millionen Franken aber mit deutlicher Mehrheit zu.

Auf der Westempore wurden für die wuchtigen Basspfeifen zwei massive stählerne Orgeltürme errichtet. Mit ihrem Gewicht von je acht Tonnen konnte man sie nicht einfach auf der Empore abstellen, sondern auf sechs Stahlplattformen, die vom Dachstuhl heruntergehängt werden mussten.

Die Finanzierung blieb neben der technischen und künstlerischen Planung bis zum Schluss eine grosse Herausforderung. Nachdem Deborah Weber und Bernhard Ruchti erste bedeutende Zusagen von Sponsoren erhalten hatten, konnte Altstadtrat Fredy Brunner – seit 2019 Präsident des Patronatskomitees – dank seines Netzwerks die Finanzierung weitgehend sichern.

Optisch gut integriert …

Im Januar 2023 begann die Erweiterung der Laurenzenorgel. Als Erstes wurden die 3011 Pfeifen der bestehenden Kuhnorgel für eine Revision heruntergenommen, um den Staub der letzten 45 Jahre zu entfernen und kleine Dellen auszumerzen. Drei Mitarbeitende der Orgelbaufirma Goll wirkten in einer provisorischen Werkstatt im Chorraum, weitere 18 stellten am Firmenstandort in Luzern 2460 neue Pfeifen her. Gleichzeitig nahmen Schreiner und Metallbauer die Konstruktion der Gehäuse für die neuen Werke auf den Emporen in Angriff. Das Nord- und das Südwerk sind in hölzerne Lamellenkasten eingebaut, während auf der Westempore für die wuchtigen Basspfeifen zwei massive stählerne Orgeltürme errichtet wurden. Mit ihrem Gewicht von je acht Tonnen konnte man sie nicht einfach auf der Empore abstellen, sondern auf sechs Stahlplattformen, die vom Dachstuhl heruntergehängt werden mussten.

… und klanglich neue Dimension

Gemäss Bernhard Ruchti wird nur sehr selten eine Orgel mit Pfeifen in dieser Grösse installiert. Den meisten Kirchen fehlten der Raum oder das Geld dafür. Die wenigsten Orgelbauer verfügten denn über die entsprechende Infrastruktur – auch die beauftragte Firma Goll nicht. Die tiefsten 36 Pfeifen wurden deshalb von der Firma Fitzau, nördlich von Porto, gefertigt. Wegen Materialengpässen kam es zu einer Verspätung: Weil das benötigte Zink nicht verfügbar war, mussten die Orgelbauer auf eine schwerere Zinn-Blei-Legierung ausweichen.

Zwei Dutzend Mitarbeitende waren für die grössten Pfeifen beschäftigt. Foto: Orguian Fitzau
Anlieferung der Basspfeifen aus dem Werk Fitzau in Portugal. Foto: Klaus Stadler
Anlieferung der Chassisteile für das Bassgehäuse. Foto: Klaus Stadler
Verankerung Bassgehäuse-Stahlträger im Dachboden. Foto: Klaus Stadler
Die Riesenpfeifen für das Basswerk lagern im Kirchenschiff und werden eine nach der andern emporgehievt. Foto: Klaus Stadler
Der Einbau der Monsterpfeifen ist aufwendig. Foto: Klaus Stadler

Da aus statischen Gründen im Kirchenraum kein Kran aufgestellt werden konnte, mussten die Basspfeifen per Flaschenzug, der an Dachbalken befestigt war, hochgehievt werden. Die grösste Orgelpfeife ist knapp zehn Meter lang, reicht von der Empore bis zur Decke und wiegt rund 400 Kilo. Gleichzeitig sind die Basspfeifen sehr fragil: Sie bestehen aus drei Millimeter dünnem Metall, wodurch sie extrem druckempfindlich sind.

Weil die Basspfeifen kurzfristig erst im August angeliefert werden konnten, fand die längst angesetzte offizielle Einweihung im September noch ohne das mächtige Basswerk statt. Zur aufwendigen Installation kommt nämlich auch noch die nicht minder arbeitsintensive Intonation: Jede einzelne Pfeife muss in Klangfarbe und Lautstärke auf die anderen Pfeifen abgestimmt werden.

Bass fährt durch Mark und Bein

Laurenzenorganist Bernhard Ruchti schwärmt aber jetzt schon: «Beim Klang ist eine meisterliche Abstimmung der Register und Klangfarben gelungen, die sich im Raum perfekt mischen. Die einzelnen Register haben eine Wärme, die unter die Haut geht – noch viel eindrücklicher, als ich mir das ausgemalt habe.» Wenn im April mit der Inbetriebnahme des Basswerks erst mal die richtige Quadrofonie erlebbar ist, wird die neue Orgel den Zuhörenden durch Mark und Bein fahren, ist Ruchti überzeugt.

Erneuert wurden auch Technik und Spieltisch. Die neue Orgel funktioniert nicht mehr mechanisch, sondern elektrisch. Das erlaubt, dass der Organist nicht mehr versteckt auf der Empore sitzt, sondern prominent im Chorraum an einem mobilen Generalspieltisch – für Gottesdienste auf der Seite, für Konzerte in der Mitte der Bühne.

Die Zahlen

Die neue 3D-Orgel umfasst 45 Register der Kuhnorgel und 40 Register plus 4 Spezialregister in den Zusatzwerken von Goll – total 89 Register. Zu den 3011 bestehenden Pfeifen kommen 2496 Pfeifen der Zusatzwerke – total 5507 Pfeifen. Gemäss Fredy Brunner, Präsident des Patronatskomitees Laurenzenorgel, kostet die 3D-Orgel nun rund 2,9 Mio. Franken. 1,1 Mio. übernimmt die Kirchgemeinde St. Gallen Centrum, mit 1,8 Mio. konnte der Löwenanteil bei spendablen Musikfreunden geäufnet werden. 

Zweimal einweihen

Schon zur Einweihung im September 2023 wurden alle Register gezogen mit Festakt und Konzerten der Starorganisten Thomas Trotter aus Birmingham und Olivier Latry aus Paris plus eine Orgelnacht im Rahmen der Museumsnacht. Die Vollendung der neuen Gollorgel wird nun vom 19. bis 21. April 2024 mit dem Orgelfestival «The Full Inauguration» gefeiert (u.a. mit Konzerten und Vernissage des Orgelbuchs). Ein weiterer Höhepunkt folgt am 26. April mit dem Konzert der Jazzorganistin Barbara Dennerlein.

Die Orgelkommission berät über den Spieltisch. Foto: Klaus Stadler
Kein rares Tier: In diesem Käfig ist «nur» der Spieltisch. Foto: Klaus Stadler
Schlüsselübergabe von Deborah Weber an Alex Xanthis, den Kirchenvorsteherschaftspräsidenten der Kirchgemeinde St. Gallen Centrum. Foto: Klaus Stadler
Prominente Einweihung mit Olivier Latry, …
… Willibald Guggenmoos, …
… Orgeldisco und …
… Videoperformance. Fotos: Augustin Saalem, Klaus Stadler
Die wichtigsten beiden Personen des Projekts: Idee und Konzept stammen von Organist Bernhard  Ruchti (r.) und Simon Hebeisen (Orgelbau Goll). Foto: Klaus Stadler

Unsere Empfehlungen

Von Schubert bis zu Star Wars

Von Schubert bis zu Star Wars

«Ich mag Instrumente, die leben», sagt Kantor Stefan Wieske von der Reformierten Kirchgemeinde Niederuzwil. Sichtlich ans Herz gewachsen ist ihm die Kuhnorgel aus dem Jahr 1938. Nicht ohne Grund.
Guggenmusik bringt Chaos in Kirche

Guggenmusik bringt Chaos in Kirche

Musik in der Kirche ist Kunst der Spitzenklasse. Bachs Orgelwerke etwa sind eine Blüte der Kultur. Doch Kirchenmusik geht auch auf tieferem Niveau: schräger, schriller und mit Tätärätä. Zum Beispiel am Fasnachtsgottesdienst in Sargans.