Von bewaffneten Brüdern und einer Scheidung 1529
Vadian ist der Grund, weshalb 2015 St. Gallen zur europäischen Reformationsstadt ernannt wurde. «Wir haben es aus der Zeitung erfahren», schmunzelt Stadtarchivar Stefan Sonderegger, «und wussten, dass wir ab sofort in der Pflicht stehen, unseren Beitrag zum Reformationsjubiläum zu leisten.» Seither hat sich das emsige
Treiben in den Stadtarchiven und der Vadianischen Sammlung der Ortsbürgergemeinde nochmals verstärkt. Entstanden sind diverse Veranstaltungen (siehe Kasten) und das Projekt «Reformation im Internet».
«Vadian vererbte seine Bibliothek der Stadt. Später gehörte es zum guten Ton der Bürger, die Bücher St. Gallen zu überlassen.»
«Es gehörte zum guten Ton»
Als Fundgrube erwiesen sich dabei die Stadtarchive und die Vadianische Sammlung. Ihr Kernstück bilden die Bibliothek und der handschriftliche Nachlass des St. Galler Humanisten, Reformators, Bürgermeisters und Chronisten Joachim von Watt, genannt Vadian. «Später gehörte es zum guten Ton der Bürger, ihre Bücher der Stadt zu überlassen», so Sonderegger. Die Vadianische Sammlung ist also selbst ein Kind der Reformation.
Bewaffnete Brüder
«Doch unser Blick auf diesen Zeitabschnitt war ein wissenschaftlicher, ein konfessionell neutraler», erklärt der Stadtarchivar. Ziel sei es gewesen, den kulturellen Prozess, den Übergang aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. 1525 beispielsweise flammten in der Fürstabtei Unruhen auf. Die äbtischen Schirmorte Zürich, Glarus, Schwyz und Luzern legten diese Differenzen bei. Doch der Abt traute dem Frieden nicht und bewaffnete die Klosterbrüder. «Auch habe ein jeder Mönch Waffen in der Cell», steht in der Quelle. Gesagt hat dies ein Vinzenz Wetter, der als Tischler für den Abt des Klosters einige Gewehre eingefasst habe. Zudem seien zehn Handbüchsen (frühe Form einer Handfeuerwaffe) nach St. Gallen in das Kloster gelangt. Und, so Wetter, gäbe es «kein Mönch, der nicht drei Gewehre in seiner Zelle habe».
Gründung des St. Galler Ehegerichts
Erstaunliches brachte auch das erste Protokoll des 1526 gegründeten St. Galler Ehegerichts zutage. Im Fall Merck Nef aus Altstätten liessen 1529 die Richter Gnade vor Recht walten und erlaubten dem Mann, sich scheiden zu lassen und eine andere Frau zu heiraten. Dies, nachdem er erfolglos und mehrmals die Obrigkeit angerufen hatte, ihm seine davongelaufene Gattin zurückzubringen.
Projekt für die Bevölkerung
Ausgangspunkt der 23 online publizierten Texte sind ein abgebildeter Auszug der Originalquelle und die buchstabengetreue Umschrift. Übersetzt ins heutige Deutsch wird das Beispiel schliesslich erläutert, interpretiert und vor den historischen Hintergrund gestellt. Warum kam es zum Bildersturm im Münster? Wie funktionierte die Kommunikation im Zweiten Kappelerkrieg? Welche Rolle spielten die Täufer oder warum hagelte es Vorwürfe an die Reformierten? Diese Fragen werden nicht nur Geschichtsinteressierten beantwortet. «Wir haben ein nachhaltiges Projekt für die Stadt, die Region und ihre Bevölkerung realisiert, neue Erkenntnisse gewonnen und leisten zudem einen Beitrag an die Standortförderung», sagt Stefan Sonderegger.
Text: Katharina Meier | Foto: Stadtarchiv Ortsbürgergemeinde St. Gallen – Kirchenbote SG, Oktober 2017
Von bewaffneten Brüdern und einer Scheidung 1529