News aus dem Kanton St. Gallen

Vom Wut- zum Mutbürger

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02.11.2017
Der Theologe Pierre Stutz hat ein Buch über die Spiritualität der Wut geschrieben und trifft damit den Zeitgeist. Denn der Wutbürger beherrscht die politische Agenda.

Pierre Stutz ist zurzeit ein gefragter Mann: Interviews im Süd- und Westdeutschen Rundfunk, lange Vortragsreisen durch Deutschland, Österreich und die Schweiz. Vor kurzem hat der Autor in der Offenen Kirche Region Olten sein jüngstes Buch «Lass dich nicht im Stich, die spirituelle Botschaft von Ärger, Zorn und Wut» vorgestellt.

«Es brodelt in der Gesellschaft»
Seit die Bürger in Ostdeutschland auf der Strasse rechtspopulistische Parolen skandieren und rechte Parteien in die Parlamente einziehen, wird Stutz oft zum Phänomen der Wutbürger befragt. Dazu hat der katholische Theologe einiges zu sagen: Pierre Stutz führt die Bewegung auf das latente Gefühl der Ohnmacht in der Gesellschaft zurück. Viele erlebten die geballte Macht der Wirtschaft und der Globalisierung und sehen, wie hilflos die Politik reagiere. «In der Gesellschaft brodelt es und der Kochtopf droht zu explodieren.» Aus Frustration stimmten viele für populistische Parteien, so Stutz.

Der falsche Weg
Für den Theologen ist dies der falsche Weg. Es sei besser, die spirituelle Dimension in diesen Gefühlen zu sehen. Man solle das Unrecht klar benennen, als konstruktive Kritik und Vision. «Und man soll sich fragen, wo kann ich Verantwortung übernehmen, welche Möglichkeiten gibt es und wie kann ich für etwas und nicht gegen etwas kämpfen», rät Pierre Stutz.

Spricht da nicht der Gutmensch, der von Politik wenig Ahnung hat? «Keineswegs», meint Pierre Stutz: «Dieser Weg ist realistisch und hat sich bewährt.» Schon die alttestamentlichen Propheten Micha und Amos hätten mit ihrem Friedensslogan «Schwerter zu Pflugscharen» Gehör gefunden. Und vor fünfzig Jahren hätten Theologen wie Martin Luther King, Dorothee Sölle und die Befreiungstheologen die Politik nachhaltig bestimmt. Ihre Forderungen nach Solidarität, Gleichberechtigung und Frieden verbanden Mystik und Politik.

Die Mystiker waren Widerstandskämpfer
«Alle Mystiker waren Widerstandskämpfer», sagt Stutz. Heute sehen viele jedoch die Spiritualität als etwas Privates an, das man nur im engen Umfeld lebt. Spiritualität kann viel mehr sein. Die Aufgabe der Kirche wäre es, so Stutz, die Ängste der Menschen ernst zu nehmen und zu erkennen, welche «Grundbedürfnisse» dahinter stehen. «Viele sind mit der Globalisierung und der Migration überfordert, sie haben das Bedürfnis nach Beheimatung und Sicherheit.» Sie traue sich nachts nicht mehr auf die Strasse, habe ihm letzthin eine Dreissigjährige in Freiburg erklärt. Man dürfe sich von solchen Ängsten nicht terrorisieren lassen.

Das Thema beschäftigt Pierre Stutz sein Leben lang. Im Alten Testament stiess er in den Fluch- und Klagepsalmen auf den «heiligen Zorn». Im Neuen Testament jagte ein wütender Jesus die Händler aus dem Tempel und schrie die Dämonen an.

Liebe dich auch selbst
Sich selber verbot Stutz, zu zürnen. Der Priester glaubte, er müsse die anderen verstehen und lieben, so wie es die Bibel fordert. «Im Christentum ist die Nächstenliebe die Kernkompetenz, der Zorn eine der sieben Todsünden», sagt Pierre Stutz. Christen übersehen dabei die «Selbstliebe, die wahrlich kein Sonntagsspaziergang» sei. Und vergessen, dass sich die unterdrückten «bösen» Gefühle zurückmelden.

Bei Pierre Stutz geschah dies im Alter von 38 Jahren. Er erlitt ein Burnout. «Das war ein prägender Einschnitt», sagt er heute. Er habe verstanden, dass Wut und Zorn zu den Grundausstattungen des Menschen gehören, wie die Liebe. Wie der «Eros» lasse sich die Aggression nicht einfach verdrängen, sondern präge das Denken und Fühlen. Statt Abspaltung brauche es einen konstruktiven Umgang mit Aggressionen, der damit beginnt, dass man Selbstvertrauen und Mut entwickelt.

Für Pierre Stutz hiess dies: Der Priester bekennt sich zu seiner Homosexualität und kämpft für das Priesteramt für Frauen und die Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Liebe in der katholischen Kirche. Ergibt das Sinn, wenn seine Forderungen in Rom auf Mauern des Schweigens treffen? «Ja», sagt Pierre Stutz. «Ich kämpfe bis zum letzten Atemzug. Den Erfolg erntet eine spätere Generation», ist er überzeugt.

Tilmann Zuber, kirchenbote-online. 2. November 2017

Buchtipp: Pierre Stutz, Lass dich nicht im Stich, Patmos, 31.90 Franken

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