News aus dem Kanton St. Gallen

Vertrieben, verstreut – und schon bald vergessen?

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27.10.2021
«Wir brauchen keine Christen.» Diese Antwort erschütterte den Assyrer Markus Simon, als er sich in jungen Jahren in Istanbul um eine Stelle bewarb. Er kehrte zurück in seine Heimat im Südosten der Türkei. Doch der Druck auf sein christliches Dorf stieg und mit ihm die Angst, eines Tages getötet zu werden. Simon wanderte 1979 in die Schweiz aus.

Doch er kann es heute noch nicht fassen, dass in der einst christlichen Türkei derzeit kaum noch ein Prozent Christen lebt, die Hagia Sophia nun wieder eine Moschee ist und Begriffe wie Toleranz, Nächstenliebe, Menschlichkeit und Respekt mit  Füssen getreten werden. Der heute 63-jährige Markus Simon, der in der Ostschweiz lebt und dessen Name hier geändert wurde, überträgt die Situation seines Volkes auf sein Dorf. «Zu Zeiten meiner Grossmutter war es noch intakt. 300 bis 400 assyrische Familien und wenige muslimische lebten in Frieden als Gemeinschaft zusammen, meist von der Landwirtschaft. Wir hatten eine Kirche, genügend zu essen, Handwerker, einen Zahnarzt. Heute sind die meisten Bewohner getötet, vertrieben, verschleppt und in der ganzen Welt verstreut. Es lebt nur noch eine Handvoll Assyrer im Dorf, meist Arme und Alte. Viele Häuser stehen leer oder wurden von Muslimen in Besitz genommen.»

Sprachverbot

Dies hat Gründe. Mit dem Aufkommen neuer Nationalstaaten und dem Vertrag von Lausanne 1923, der die Grenzen der Türkei neu regelte, war das Schicksal der Assyrer besiegelt: Sie hatten kein einheitliches Gebiet mehr im Zweistromland und mussten sich in einem der neuen Staaten einfügen. Der Status einer anerkannten nationalen oder religiösen Minderheit mit daraus folgenden kulturellen Rechten wurde den Assyrern in der Türkei fortan verwehrt. Sie verbot auch die Volksbezeichnung Assyrer und versuchte nicht nur die Nationalbewegung der Assyrer, sondern auch das Glaubensleben der christlichen Konfessionen zu unterdrücken. «Es begann schon früh mit dem Einführen der türkischen Sprache», erzählt Simon. Bis zum Ende des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg war die Sprache der Elite das Osmanische.

 

«Ich sollte Muslim werden und wurde immer wieder geschlagen und misshandelt.»

 

1923 folgte die moderne Türkei, die Reformen (Kopfbedeckung, Säkularisierung etc.) mit sich brachte und das bis dahin eher ländliche Türkisch zur Staatssprache machte. In den 1930er-Jahren kam es zu Bestrebungen, persische und arabische Elemente zu tilgen. «Die Ortstafeln wurden ausgewechselt und türkisch beschriftet. Und in der Schule durften wir nicht mehr Aramäisch sprechen – die Sprache von Jesus von Nazareth. Alle Mädchen, auch meine Schwester und Cousinen, wurden aus Angst, sie würden mitgenommen, verkauft oder vergewaltigt, von unseren Eltern nie in die Schule geschickt», so Simon. Der Analphabetismus bei den assyrischen Frauen seiner Generation sei deshalb weit verbreitet. Später, in der Diaspora, gaben sie ihre Muttersprache mündlich weiter, lernten die neue Landessprache gebrochen reden, aber schreiben und lesen können sie bis heute nicht.

Ramadan für Assyrer

Aufgrund des Vertrags von Lausanne, der die Assyrer nicht als Minderheit anerkannte, durften die Assyrer als Gemeinde rechtlich kein Eigentum erwerben und als Private wurden sie immer mehr Opfer von widerrechtlichen Enteignungen von Grund und Boden. «Wir begannen schon im jugendlichen Alter, unser Dorf mit Gewehren zu beschützen, schoben täglich Wache», erinnert sich Simon. Dieses Zermürben und Aufreiben der assyrischen Bevölkerung zeigte sich auch während des Ramadans: «Wir wurden gezwungen, zwischen Sonnenauf- und Sonnenuntergang ebenfalls nichts zu essen und zu trinken.» Später, im zweijährigen Militärdienst in der türkischen Armee, gingen die Demütigungen weiter. «In unserem Pass steht bei der Religion explizit ‹Christ›. Aber schon unsere christlichen Vornamen machen klar, an wen wir glauben.» Dies wollten die Militärs ändern. Markus Simon sollte konvertieren, doch nicht mittels Argumenten, sondern immer wieder mit Schlägen, Verspottung, Verhöhnung, schlechtem Essen und Beschimpfungen. «Doch ich blieb stark.» Aber als er nach der Dienstzeit und erfolgloser Stellensuche in Istanbul nach Hause zurückkehrte, blieb er nicht mehr lange in der Türkei. Er ging fort. «Es war unerträglich. Wir lebten ständig in der Angst, dass wir überfallen und getötet werden könnten.»

Zwischen den Fronten

Zu Beginn der 1980er-Jahre gerieten die Assyrer in der Türkei immer mehr zwischen die Fronten des Krieges des türkischen Militärs gegen die Anhänger der kurdischen Arbeiterpartei (PKK). Assyrer wurden sowohl von der PKK als auch von den türkischen Regierungstruppen, von Spezialeinheiten und der Polizei sowie von islamisch-fundamentalistischen Kräften und von kurdischen Agas in unterschiedlicher Intensität bedrängt und unter Druck gesetzt. Von den Anti-Terror-Einheiten des türkischen Militärs wurde ihnen immer wieder die Kooperation mit dem kurdischen Widerstand vorgeworfen.

 

«Die Geschichte meines Volkes darf nicht vergessen gehen.»

 

Von der PKK wurden sie andererseits verdächtigt, mit den türkischen Unterdrückern zu kollaborieren. Immer wieder kam es zu Anschlägen auf assyrische Familien. 1993 beispielsweise wurden Assyrer verschleppt, Kleinbusse angegriffen und ein assyrisches Dorf geräumt. «Völlig absurd und falsch ist auch der Vorwurf gegenüber den Mönchen im Kloster Mor Gabriel, sie würden die Kurden unterstützen. Dabei leben sie nur ihr Leben und beten in ihrer heute kleinen Gemeinschaft», so Markus Simon. Das Kloster Mor Gabriel stammt aus dem Jahr 397 nach Christus und gehört zum Unesco-Weltkulturerbe. Der türkische Staat enteignete es aufgrund einer neuen Gemeindeordnung vorübergehend. 

«Seid vorsichtig!»

Laut Arte-TV leben heute nur noch 2000 Assyrer in der Türkei. «Wir sind überall verstreut. Unsere gemeinsame Sprache, die Spezialitäten, Bräuche und die Kultur gehen verloren. Wenn ich assyrische Kunst betrachten will, muss ich nach Berlin und dafür Eintritt bezahlen», so Simon. Seit Jahrzehnten erzählt er seine Geschichte und die seines Volkes. «Ich klopfe wie Jesus an die Türen.» Er wolle, dass die schleichende, subtile Ausrottung und Vertreibung der Assyrer nicht vergessen gehe, jemand irgendwann aufbegehre, auf dass sein Volk ohne Angst wieder in die Heimat zurückkehren könne. «Denn ein Grossteil von uns wollte nie weg. Mittlerweile aber ist für uns assyrische Christen unsere Heimat fremd geworden», bedauert Markus Simon. «Ich liebe die Menschen. Aber vor politisch motivierten und radikalisierten Muslimen muss man sich in Acht nehmen. Ihr Ziel ist nicht die christliche Nächstenliebe, sondern die Weltherrschaft des Islam – und wir Christen sind für sie Feinde.»

Text: Katharina Meier | Fotos: Procopius Wikipedia/zVg – Kirchenbote SG, November 2021

 

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