News aus dem Kanton St. Gallen

«Verschwörungstheorien unnötig machen, statt sie zu bekämpfen»

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22.04.2021
Sektenexperte Georg Otto Schmid über Verschwörungstheorien und ihre Ursache.

Im Jahr 2020 haben sich die Anfragen zu Verschwörungstheorien bei Relinfo verdreifacht. Die evangelische Informationsstelle zu Kirchen, Sekten und Religionen wird vom Theologen Georg Otto Schmid geleitet. Die Gründe für den Boom sieht er in zunehmender Einsamkeit und Verunsicherung.

Georg Otto Schmid, wie entstehen Verschwörungstheorien?
In Krisensituationen suchen Menschen eine Erklärung, einen Sündenbock. Im 14. Jahrhundert machte man beispielsweise Juden als «Brunnenvergifter» für die Pestepidemie verantwortlich. Verschwörungstheorien entstehen ausserdem, wenn Menschen vergeblich auf etwas warten: Uriella erwartete den Weltuntergang, der kam aber nicht. Also haben «satanische Mächte» ihn verhindert. 

Auch zum Coronavirus kursiert eine Vielzahl  von Verschwörungstheorien. Können Sie ein Beispiel nennen?
Die Toggenburger Esoterikerin Christina von Dreien glaubt, dass Ausserirdische unsere Welt lenken und von der «Angst-Energie» der Menschen leben. Sie hätten das Coronavirus geschaffen, um die Bevölkerung zu dezimieren – obschon sie damit ja auch ihre eigene Lebensgrundlage dezimieren würden. Gleichzeitig seien diese Weltherrscher so inkompetent, dass das Virus zu harmlos wurde. Mich erstaunt, dass rund 12 000 Anhängerinnen und Anhänger von Christina von Dreien diese Widersprüche offenbar nicht stören.

Auch über das Impfen kursieren Verschwörungstheorien.
In diesem Fall knüpfen Verschwörungstheorien daran an, dass Impfungen tatsächlich Nebenwirkungen haben. Auch wenn schwere Nebenwirkungen sehr selten sind, besteht in Bezug auf mögliche Langzeitwirkungen der neuen mRNA-Impfstoffe eine gewisse Unsicherheit. Wir Menschen müssen mit der vielseitigen, fragilen Welt leben. Verschwörungstheoretiker reduzieren sie: Wenn hinter allem die Verschwörer stecken, muss man keine eigenen Entscheidungen treffen und die Unsicherheit nicht aushalten. 

Was steckt laut diesen Theorien denn hinter dem Impfen?
Eine gängige Verschwörungstheorie besagt, dass die Weltbevölkerung auf 500 Millionen Menschen reduziert werden soll. Die Impfungen seien deshalb manipuliert, sodass sie unfruchtbar machten. Es gibt aber viele verschiedene Varianten, die sich auch widersprechen: Die Impfungen verändern unsere DNA, pflanzen uns einen Mikrochip ein oder machen uns zu Robotern.

Neulich ist mir in St. Gallen eine Frau begegnet, die einen Judenstern trug. Fotomontagen im Internet zeigen das Eingangstor zum KZ Auschwitz und daneben einen Spitaleingang mit der Aufschrift «Impfen macht frei».
Niemand wird bei uns verfolgt. Coronaleugner können online ihre Meinung kundtun und demonstrieren, sofern sie sich an die Regeln halten. Und dennoch vergleichen sich Einzelne mit Opfern der Verfolgung durch die Nazis. Manche Coronakritiker haben das Gefühl: «Wir sind die entscheidende Menschheitsgruppe, weil wir gegen die Verschwörer ankämpfen.» Dieses übersteigerte Elitegefühl zeigt sich an der geschmacklosen Übernahme von Symbolen wie dem Judenstern. 

Welche Tipps geben Sie Menschen, deren Freunde oder Familienmitglieder sich in Verschwörungstheorien verlieren?
Zu Beginn kann man inhaltlich auf die Theorien antworten, sich auf Faktencheck-Seiten informieren. Gleichzeitig soll man nach den Motiven fragen: Oft stehen Verunsicherung und Einsamkeit dahinter – zum Beispiel bei plötzlicher Arbeitslosigkeit oder nach der Pensionierung. Manche Menschen verbringen dann viel mehr Zeit im Internet und geraten in Kontakt mit Verschwörungstheorien.

Und wenn jemand bereits tief darin verstrickt ist, was raten Sie dann?
Dann machen Diskussionen keinen Sinn mehr: Muss die Person sich verteidigen, verstärkt sich ihr Bezug dazu noch mehr. Gleichzeitig bekommt sie den Eindruck, dass man sie ernster nimmt, seit sie Verschwörungstheorien vertritt. Wichtig ist, dem Verschwörungs-Fan zu vermitteln: Du als Mensch bist mir wichtig! Sprecht über den Alltag, gemeinsame Bekannte, Hobbys, sodass die Person merkt, dass sie es besser hat, wenn sie die Verschwörungstheorien weglässt. Die Idee ist, Verschwörungstheorien unnötig zu machen, statt sie zu bekämpfen.

Sind Verschwörungstheorien in kirchlichen Kreisen verbreitet?
Kirchlich stark engagierte Menschen sind für gängige Verschwörungstheorien weniger affin, denn Verschwörungstheorien haben den Charakter von Ersatzreligion. Im christlichen Bereich am ehesten vergleichbar wäre das Erwarten des Antichrists, mit dessen Kommen gewisse freikirchliche Kreise rechnen.

Interview | Foto: Ines Schaberger, Podcast Fadegrad – Kirchenbote SG, Mai 2021

 

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