News aus dem Kanton St. Gallen

Verantwortungsethik statt Moralkeule

3 min
20.03.2023
Kaum trat die Pandemie in den Hintergrund, ĂŒberfiel Russland die Ukraine. Die Weltordnung ist im Wandel, autoritĂ€re Staaten sind, so scheint es, im Aufwind. Was bedeutet das fĂŒr die Schweiz? Eine Auslegeordnung von Beat Kappeler.

Einen Eroberungskrieg in Europa, nur eine Flugstunde entfernt, hatten wir nach dem Ende der Ost-West-Spannung 1989 nicht erwartet. Viele LĂ€nder beendeten die allgemeine Dienstpflicht und haben Berufsarmeen. Die «Friedensdividende», die eingesparte RĂŒstung, wurde anderswo ausgegeben. Die Verwerfungen begannen vor lĂ€ngerer Zeit und sie fĂŒgen sich zu einem Gesamtbild zusammen: Mehrere LĂ€nder kehrten von westlichen Werten ab, die viele naiverweise fĂŒr universell hielten. OsteuropĂ€ische LĂ€nder wie Polen und Ungarn haben muskulösere Vorstellungen von Demokratie und Gerichtswesen. Ebenso die TĂŒrkei. Russland unter PrĂ€sident Putin, China unter PrĂ€sident Xi kehrten zur Diktatur zurĂŒck. Russland fĂŒhrte Vernichtungskriege in Tschetschenien, Georgien, Syrien, annektierte die Krim. Wenn «Putin-Versteher» finden, 1989 habe der Westen seine ZurĂŒckhaltung mit der NATO versprochen, dann tat er es gegenĂŒber einem anderen Russland, als es heute ist.

Die Macht des Dollar-Clearings
«Westlich» waren in der Welt die Grundrechte, Beschwerdemöglichkeiten, freie Wahlen und parlamentarischer Wettbewerb, und ökonomisch der offene Welthandel, offene FinanzflĂŒsse, allerdings auch deren Kontrolle durch das Dollar-Clearing jeden Abend unter den Augen der USA in New York. Diese Kontrolle aller Grossbanken wirkt mehr als die 7. Flotte, und wurde zum mĂ€chtigen Hebel gegen Russlands Reserven. ZusĂ€tzlich baute man auf den Wohlstand des Westens.

Wir leiden unter den Nachrichten, gehen aber morgens unbeschÀdigt zur Arbeit, zum Einkaufen, auf Reisen.

Doch jetzt haben die Staaten mit dem ökonomischen Gewicht insgesamt gleichgezogen, technisch fast ebenso, sie alimentieren die Lieferketten mit billigen Waren und beherrschen knappe Rohstoffe, ihre finanziellen Polster sind enorm. Sie beginnen, ihre Inte-

ressen unter sich zu bĂŒndeln, einige gewaltige LĂ€nder gar als «Bande böser Buben»: Russland, China, Iran. Sie liefern untereinander, sie machen Zahlungen ohne Dollars und Putin kann seine ÖlertrĂ€ge in China deponieren. Indien unter Modi, Saudi-Arabien, die TĂŒrkei bieten auch gelegentlich mal Hand zu solchen Taten.

 

Die NeutralitÀt galt nie absolut
Immerhin, der Westen kĂ€mpft, wenigstens die Angelsachsen. Grossbritannien, die USA, Kanada waren Helfer der ersten Stunde in der Ukraine, massiv, militĂ€risch, finanziell und technisch, wĂ€hrend Kontinentaleuropa schlief. Ein eigentlicher «D-Day No. 2» findet statt. Die Sanktionen werden ohne Wehleidigkeit durchgezogen, auch von der Schweiz. Die NeutralitĂ€t gilt und galt nie absolut, der Kern bleibt, die Schweiz fĂŒhrt keine Kriege, aber der Rest ist Praxis, mit Hilfe und Lieferungen – und was die Vormacht USA davon billigt. Die Schweiz hat – sogar mit Volksabstimmung – den Luftraum gesichert, die Territorialverteidigung lĂ€uft an. Die Jungen leisten wieder vermehrt gerne MilitĂ€rdienst, eine Wende in den Köpfen fĂŒr Freiheit und Wohlstand kommt auf.

 

Die Schweiz soll nicht wie die EU, wie Deutschland mit der Moralkeule Aussenpolitik machen, sondern die Verantwortungsethik pflegen: wenn notwendig, hartes Handeln, weil man auf die Folgen sieht – im Kampf fĂŒr unsere Interessen, fĂŒr die SouverĂ€nitĂ€t, wie es auch der Kampf der Ukraine ist. Innert Monaten ist die Welt eine andere geworden. Knappheit, Inflation, Krieg, Machtverschiebungen beendeten alte Gewissheiten. Die Schweiz blieb vorsichtig mit Verschuldung, Inflation, Staatsmacht, und unsere direktdemokratischen Wege funktionierten. Wir leiden unter den Nachrichten, gehen aber morgens unbeschĂ€digt zur Arbeit, zum Einkaufen, auf Reisen. Dieses Privileg mĂŒssen wir stets erarbeiten, tĂŒchtig, umsichtig, politisch diszipliniert, leidensfĂ€hig bleiben, um nicht leiden zu mĂŒssen.

 

Text: Beat Kappeler | Foto: Volodymyr Tarasov / Ukrinform/Future Publishing via Getty Images   – Kirchenbote SG, 20. MĂ€rz 2023

 

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