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Unverschämt nackt

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01.07.2021
Adam und Eva schämten sich ihrer Nacktheit. So wird die Paradieserzählung oft gedeutet. Doch diese Deutung ist ein tragisches Missverständnis. Der Grund der Scham liegt nämlich woanders.

«Da gingen den beiden die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren. Und sie flochten Feigenblätter und machten sich Schurze.» Gen 3,7

Vielleicht wäre die Geschichte des Christentums fröhlicher, gesünder, entspannter, gelassener, ja auch aufrechter und toleranter verlaufen, wenn nicht eine unselige Verknüpfung von Scham und Nacktheit sich aus der Deutung der Paradiesgeschichte ergeben hätte? In der Schöpfungsgeschichte leben Adam und Eva anscheinend nackt und sorglos im Paradies, bis zur sprichwörtlichen falschen List der Schlange, die ihnen die verbotene Frucht andreht. Ganz offensichtlich verändert der Genuss der verbotenen Frucht aber etwas: Eva und Adam beginnen sich zu schämen, machen sich Kleider und verstecken sich vor Gott.

In der Rezeptionsgeschichte wurden in der Folge Nacktheit – und damit verbunden Sexualität – mit Scham belegt. Eine verhängnisvolle Deutung! 

Gottes Vertrauen missbraucht

Denn womöglich schämten sich Adam und Eva weniger ihrer Nacktheit als vielmehr ihrer Lüge wegen. Sie hatten ja Gottes Vertrauen missbraucht. Da war Scham durchaus berechtigt. Verratenes, missbrauchtes Vertrauen ist kränkend, verletzend, ja vielleicht gar erschütternd, sicher aber enttäuschend. Gebrochenes Vertrauen lässt sich schwer wiederherstellen.

Dass Scham in der Tradition der Paradiesgeschichte meist mit Nacktheit und Sexualität verbunden wurde und nicht mit dem Vertrauensbruch, ist tragisch. Dass das Christentum Leiblichkeit und Sinnlichkeit ablehnt, wurde so zu einem traurigen, lebensverneinenden Markenzeichen. Indem etwa Eros, Nacktheit und Sexualität mit Versuchung, Scham und Sünde in Verbindung gebracht wurden. Häufig zum Nachteil der Frauen. 

Paradiesische Kindheit

Womöglich war es ja – im biblischen Sinn, in der Bildhaftigkeit der hebräischen Sprache – im Grunde ein wunderbar treffendes Bild, die leibliche Nacktheit symbolisch zu setzen für die Blösse, die man sich gibt, wenn man Vertrauen ausnutzt, jemanden überlisten will oder der Versuchung erliegt, sich an Gottes Stelle zu setzen.

Dabei ist es geradezu «paradiesisch», wie etwa kleine Kinder ihre Nacktheit so «unverschämt» geniessen, als seien sie noch ganz mit sich verbunden durch eine grundpositive, vertrauensvolle Lebenszugewandtheit.

So bleibt zu hoffen, dass die von der Schöpferkraft geschaffene leiblich-sinnliche Nacktheit stärker mit Lebendigkeit und Empathie assoziiert wird als mit Blösse und mit der Scham des Vertuschens.

Text: Marilene Hess, Pfarrerin in Grub und Eggersriet | Bild: Michelangelo / Wikimedia – Kirchenbote SG, Juli-August 2021

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