Als Dreikäsehoch bin ich dem Osterhasen und dem Christkind begegnet. Warum auch nicht? Jeder Erwachsene um mich herum sprach von den beiden.
Doch dann, ich mochte fünfeinhalb und bereits ein fortgeschrittenes Kind gewesen sein, kamen mir Zweifel. Es gab offenbar zwei Welten, eine erträumte und eine andere. Das offenbarte sich mir, weil ich zu wenig Spielzeuglastwagen hatte. Um dies zu ändern, schloss ich die Augen, bis ich eine ganze Flotte von Sattelschleppern vor mir sah, ganz deutlich, aufgereiht auf dem Boden neben meinem Bett. Aber als ich die Augen öffnete: nichts, nur Spannteppich! Ich presste erneut die Augen zusammen, ballte meine Fäuste, knurrte die Bilder in meinem Kopf hervor, immer wieder, bis ich nach Luft japsen musste. Vergeblich. Nicht mal ein stummeliger zweiachsiger Kipper stand da.
Ich lernte: Es gab die Nacht, es gab den Tag, es gab nur, was ich sah.
Als Nächstes träumte ich davon, in einer Rakete im Weltall herumzufliegen. Das gefiel mir. Ich bestellte eine Rakete beim Christkind, und was lag dann unterm Weihnachtsbaum? Eine 30 Zentimeter lange Rakete, die nur blinkend am Boden herumfahren konnte. Wie sollte man damit ins Weltall fliegen? Hallo? Ernüchtert, verzichtete ich fortan darauf, mir Dinge der einen in die andere Welt zu erträumen. Abgesehen davon gab es in der dunklen Welt ja nicht nur schöne Träume, sondern auch hässliche, brutale, angsteinflössende, in denen ich verfolgt wurde oder lebendig begraben, und die ich nur überlebte, weil ich rechtzeitig aufwachte.
Ich lernte: Es gab die Nacht, es gab den Tag, es gab nur, was ich sah. Und es gab weder ein Christkind noch einen Osterhasen.
Mit 14 Jahren erlebte ich nach einem Kinobesuch jedoch einen stürmischen Rückfall: Ich spazierte viele Mittwochnachmittage durch den Wald, weil ich davon träumte, dort meiner Traumfrau zu begegnen. Sie hiess Olivia Newton-John, war gebürtige Australierin, ein Weltstar, 16 Jahre älter als ich und unglaublich schön. Wir hätten so gut zusammengepasst! Doch da waren nur Bäume.
Da dämmerte es mir einmal mehr: Tagträume sind für Träumer. Nur Realisten erreichen etwas im Leben. Wer das verkennt, ist naiv. Und naiv sein ist doof. Sei nie zu positiv, du wirkst seriöser, wenn du pessimistisch auftrittst, las ich später in Karriereratgebern. Orientiere dich am Machbaren, nicht an Möglichkeiten. Hast du Visionen, geh in den Keller, bis dein Anfall vorbei ist. Und so weiter und so fort.
Ich bemühte mich redlich.
Doch wenn ich ehrlich sein darf – kommen Sie etwas näher, ich möchte es Ihnen ins Ohr flüstern – wie stumpfsinnig ist eine Welt, die sich nur an der Vernunft orientiert? Ohne Träumer und Träumerinnen wäre alles doch bloss Mathematik! Okay, nichts gegen Mathematik: Eins und eins gibt zwei. Nie drei. Das sehe ich ein. Auch, dass die Realität unendlich trist ist; machen wir uns nichts vor: Stündlich verhungern Kinder und täglich zerfetzen Bomben Menschen. Urwälder verbrennen und Meere verkommen zu Kloaken. Reiche werden mächtiger und Dreiste legen die Naiven rein. Wir können nicht einfach die
Augen schliessen und uns eine bessere Welt erträumen.
Das wäre sehr naiv.
Bloss: Ohne Naivität können wir uns keine bessere Welt erträumen. Und ohne den Traum, dass die Welt besser sein könnte, wäre sie vermutlich noch schlechter.
Also gebe ich offen zu: Ich erleide sehr oft Rückfälle. «Du bist ein Phantast», kriege ich dann zu hören. «Bleib auf dem Boden!» Oder, am häufigsten: «Träum weiter!»
Ja. Mach ich!
Text: Steven Schneider | Foto: Pixabay – Kirchenbote SG, Dezember 2020
Träum weiter!