Teil 4: Starren sie Löcher in die Wände?
Anni Kern und Agnes SchĂĽmperlin starren. Doch sie starren keine Löcher in die Wände, sondern auf Löcher in den Kirchenwänden. Denn aus den Giebelspitzöffnungen kommen die Fledermäuse des Nachts heraus, und diese gilt es akribisch zu zählen.Â
Tigg, tigg – tigg, tigg, tigg. Kurz nach 22 Uhr bewegen sich die Daumen der beiden Frauen fast unentwegt. Es ist nur das Klicken dieses metallenen Handzählers zu hören, zwischendurch ein letzter Vogelschrei, Windstösse, die das hohe Gras ins Rauschen versetzen. Sonst Stille. Anni Kern und Agnes SchĂĽmperlin sind hochkonzentriert, wie jedes Jahr. Sie zählen die Kleinen und Grossen Mausohren, jene Fledermäuse, die hier in der Kirche Eichberg in einer Mischkolonie leben.Â
Zentimeterdicke Kotschicht
Eine Stunde zuvor standen sie zusammen mit RenĂ© GĂĽttinger auf einem Brett, zwischen Kehlbalken und Giebelspitz des Kirchenschiffes und betrachteten die hängenden Muttertiere oder duckten sich, wenn eine Fledermaus mit ihrer Spannweite von 40 cm ĂĽber ihre Köpfe hinwegflog. «Fledermäuse sind neugierig», so der Experte, «sie wollen wissen, wer hier ist.» Sobald es dunkel wird, werden sie zum Nachtflug ansetzen, sich auf Futterjagd begeben. Die ungebetenen Menschengäste in der Kirche bewegen sich rĂĽckwärts, achtsam, um nicht weiter zu stören und auch nicht, um in die dicke Kotschicht zu treten, die unter den rund 600 hängenden Tieren immer grösser wird. «Durchschnittlich ist sie 20 Zentimeter dick», weiss Lehrerin Agnes SchĂĽmperlin. Wie Anni Kern hilft sie nicht nur beim Zählen am Ort, in Kobelwald, Sennwald, Diepoldsau, Flums oder Gretschins, sondern ist auch fĂĽr die Eichberger Quartierpflege im FrĂĽhling zuständig. «FĂĽnf Säcke Ă 35 Liter besten DĂĽngers holten wir letztes Jahr heraus.» Er lande beim Mesmer oder auch bei ihr im Garten.Â
Darüberhinaus geht Schümperlin in Diepoldsauer Klassen, referiert dort über die geschützten Tiere, seziert mit Schülerinnen und Schülern unter dem Mikroskop den Kot der Fledermäuse und macht Exkursionen. Auch Anni Kern ist seit rund 25 Jahren fasziniert vom fliegenden Säugetier. Für den Naturschutz, so die gelernte Krankenschwester und Pro- Senectute-Angestellte, habe sie sich immer engagiert. «Mich begeistert indes der spezialisierte Einsatz für diese bedrohte Säugetiergruppe und die damit verbundene Feldforschung.» Es sei spannend, die Fledermäuse zu beobachten, Neues zu entdecken und auch festzustellen, wie sich die Tiere der Kultur anpassen (müssen). In Eichberg, so die Präsidentin des Vereins Fledermausschutz St. Gallen – Appenzell – Liechtenstein, seien die Bedingungen für das Kleine und Grosse Mausohr noch ideal. Nicht nur habe man die Kirche vor über zehn Jahren mit Rücksicht auf die geschützten Arten renoviert, auch störe hier kaum fremdes Licht oder gar eine Kirchenbeleuchtung das Quartier. Es ist von Rebbergen, Wiesland und dem Friedhof umschlossen.
Nachtsichtgeräte und Schlaglicht
Das bedeutet im Umkehrschluss, dass die Zählerei in der Dunkelheit schwierig ist. Doch es gibt Hilfen. Agnes SchĂĽmperlin nutzt das Schlaglicht einer Taschenlampe und erkennt so die Fledermäuse beim Ausflug auf der Nordostseite. Anni Kern bedient eine Wärmebildkamera mit einer zweieinhalbfachen Vergrösserung auf der SĂĽdwestseite der Kirche. Mitten im Feld schliesslich sitzt RenĂ© GĂĽttinger. Er hält sich einen Restlichtverstärker vor die Augen und zählt die Fledermäuse, die bei den Ă–ffnungen des Kirchturms herausfliegen. Neben ihm im Gras liegt ein Ultraschalldetektor, der die Laute der Mausohren hörbar macht. Sie scheinen einander zuzurufen. Allmählich verstummt das «Geschwätz», und als um 23 Uhr eine Viertelstunde lang weder bei den Frauen noch beim Experten Tiere in die Nacht hinausflogen, wird die Zählung beendet. 683 an der Zahl, fast 50 mehr als im Vorjahr. Alle freut’s.Â
Teil 4: Starren sie Löcher in die Wände?