Swingen mit Zwingli
Der Mann ist eine Wucht: 185 Zentimeter lang, ein Body wie ein Basketballspieler. In der ehrwürdigen Kirche St. Mangen in St. Gallen predigt er mit dem ganzen Körper. Arme, Hände und Oberkörper sind in dauernder Bewegung, die kräftige Stimme hat viel Schwung und die Dynamik eines Rap. Er zitiert Dietrich Bonhoeffer mit der «billigen Gnade» (cheap grace) und streicht später einem Jugendlichen das Taufwasser sanft über den Kopf. Stolz und verlegen steht der Junge vor der applaudierenden Gemeinde, beschützend hält der Pfarrer den Arm um seine Schulter. Nach über einer Stunde Gottesdienst lädt er zur «Baptize-Icecream» ein.
Das ist Scotty Williams. Mit seinen 33 Jahren steht er gerade im «Jesus-Jahr», wie man in den USA scherzhaft zu sagen pflegt. An Ostern ist er als englischsprachiger Pfarrer in St. Gallen angekommen. Sein auf drei Jahre befristeter Auftrag von der Kantonalkirche lautet: Eine internationale landeskirchliche Gemeinde aufbauen.
Robin Hood und die Liturgie
Scotty Williams kommt aus dem US-Südstaat Louisiana, der drei Mal so gross wie die Schweiz und wegen New Orleans bekannt ist. Scotty ist in dem 3000-Einwohner-Flecken Sarepta in einer kreolischen Familie aufgewachsen. Die «Kreolen» sind die Nachfahren spanischer oder französischer Einwanderer in der Kolonialzeit, teils mit afrikanischen Wurzeln. In diesen Familien werden die Enkel nach der Konfession der Grossmutter mütterlicherseits (Scotty: «She loved Calvin») erzogen: Darum ist er Presbyterianer calvinistischer Prägung geworden. Schon als Kind fühlt er sich in der Liturgie, dem Ablauf des Gottesdienstes, zu Hause.
Damit er später Pfarrer wird, braucht es zwei weitere Schlüsselerlebnisse. Das eine ist eine Robin-Hood-Verfilmung, in der er den Mönch Bruder Tuck sieht. Das soziale Engagement des «Königs der Vagabunden» macht ihm dermassen Eindruck, dass der junge Scotty wie Tuck sein Gehilfe werden möchte. Dann, bereits auf dem College als Kunststudent, diskutiert er oft mit einer Theologiestudentin. Er kritisiert die ausgrenzende Haltung und das enge Bibelverständnis der Kirchen hart. Schliesslich sagt sie zu ihm: «Ich bin dein Gejammer über die Kirchen müde, tu etwas!»
Kirchenpflanze in der Ostschweiz
Williams tat etwas. Er studiert Theologie, wird Pfarrer, zieht von Louisiana in den Norden nach Minnesota und lernt dort eine skandinavische Frömmigkeit kennen. 2010 kommt er in die Schweiz und wird für fünf Jahre Assistent Reverend in der International Protestant Church (IPC) in Zürich. In dieser Zeit doktoriert er über Zwingli (englisch «Swingli» ausgesprochen), dessen Theologie er früher langweilig fand und nun durch die Originaltexte neu entdeckt. Nach St. Gallen zieht es ihn wegen der Liebe: An Silvester 2006 kommt er mit einem Freund in die Schweiz und lernt seine spätere Frau kennen. Heute wohnen die beiden in Wittenbach in der St. Galler Agglo.
Nach der IPC-Zeit sucht Williams eine neue Herausforderung. Er findet sie in St. Gallen, und er nennt sie «Church Planting», zu Deutsch etwa «Kirchenpflanzen». Die Gemeinde heisst «All Souls» – «alle Seelen» sind willkommen. Die Pflanze wächst.
«Gott segnet, damit wir segnen»
Scotty Williams, wieso heisst die internationale Gemeinde St. Gallen «All Souls»?
Zuerst hatte ich die Idee, dass sie «All Saints» heissen solle. Meine Frau sagte zu Recht: Das wäre nicht einladend. So kam ich auf «All Souls Protestant Church» wie der Feiertag «Allerseelen». Alle Menschen haben eine Seele, alle sind eingeladen.
Wie muss man sich diese Gemeinde vorstellen?
Wir feiern abwechselnd vierzehntäglich Gottesdienst sowie den Anlass «Soul Food». Dabei kommen wir zu einem Bibelgespräch zusammen und danach essen wir – Nahrung für Seele und Körper.
Gibt es im Raum St. Gallen ein Bedürfnis für diese Gemeinde?
An der Universität St. Gallen hat es englischsprachige Personen im Lehrkörper und unter den Studierenden, die dabei sind. In die Gottesdienste kommen aber auch Leute aus Asien und Flüchtlinge. Und Schweizer. Ich bin mit rund 35 Personen regelmässig in Kontakt, in die Gottesdienste kommen gegen 20.
Wie gross soll die All-Souls-Gemeinde werden?
Es geht für mich nicht um möglichst viele Mitglieder. Es geht um ein gutes Fundament und darum, dass Beziehungen wachsen.
Sie haben über Zwingli doktoriert. Um was geht es?
Aus der Arbeit ist eine neue Abendmahl-Liturgie entstanden, ein Mix aus Calvin und Zwingli. Wir haben sie in der Helferei Grossmünster in Zürich, wo Zwingli wohnte, ausprobiert. Für mich ist die Zwingli-Entdeckung, dass er den Segen Gottes in die Gesellschaft tragen will. Das ist unsere Aufgabe: Gott segnet uns, damit wir segnen.
In den USA ist gerade Wahlkampf. Was halten Sie von Clinton und Trump?
Was ich in den USA und bei beiden Kandidierenden vermisse, ist der Respekt gegenüber Andersdenkenden. Aber wer immer gewählt wird: die Welt geht nicht unter.
Ein Reizthema in den USA ist die Haltung zur Homosexualität. Wo stehen Sie?
Als das schreckliche Attentat in Orlando geschah, haben wir die Kollekte für den Nachtclub gesammelt. Es geht nicht darum, hetereo- oder homosexuell zu sein, sondern darum, Jesus nachzufolgen. Man muss nicht Hetero sein, um Jesus nachzufolgen.
Wie ist es für Sie, als Schwarzer in der Schweiz zu leben?
Ich fühle mich hier nicht als Schwarzer. Die Menschen sehen mich hier, mehr als in den USA, als Person. Wenn Du dich hier integrieren willst, dann helfen dir die Leute, dich zu integrieren.
Gibt es typisch Schweizerisches, das Sie mögen?
Ich gehe manchmal gerne zu einer «Metzgete». Dadurch wurde ich Mitglied in einem Verein zur Förderung des Ansehens der Blut- und Leberwürste.
All Souls Protestant Church, St. Gallen
Daniel Klingenberg / Kirchenbote / 11. Oktober 2016
Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».
Swingen mit Zwingli