News aus dem Kanton St. Gallen
Fokus Stadt und Land

Städte sind das härtere Pflaster

von Cyrill Rüegger
min
01.09.2024
In seiner Forschungsarbeit beschäftigt sich Arnd Bünker intensiv mit den religiösen Einstellungen in der Schweiz. Im Interview geht er auf den Stadt- Land-Graben ein und verrät, weshalb die Reformierten mehr Mitglieder verlieren könnten als die Katholiken.

Herr Bünker, sind die Menschen auf dem Land frommer als in der Stadt?
Auf den persönlichen Glauben bezogen lässt sich das nicht klar sagen. Aber auf dem Land gibt es durchaus eine stärkere Bezugnahme auf traditionelle kirchliche Feierlichkeiten: Die Hochzeit wird in ländlichen Gebieten eher noch in der Kirche gefeiert.

Woran liegt das?
Oft sind die Kirchen auf dem Land das einzige Angebot im Bereich Spiritualität – und manchmal sogar im Bereich Freizeit. Die Kirchen haben hier praktisch keine Konkurrenz. Zudem existieren in Dörfern stabilere Formen des Zusammenlebens. Kirchliche Feierlichkeiten gehören gewissermassen als Gemeinschaftsevents zum Dorfleben dazu.

Und wie ticken die Menschen in der Stadt, wenn es um Religion und Kirche geht?
In der Stadt lebt man grundsätzlich anonymer. Man muss und kann sich die Menschen selbst aussuchen, mit denen man die Freizeit verbringt. Gleich ist es bei den Angeboten: Ich wähle vielleicht nicht die nächstgelegene Kirchgemeinde, sondern diejenige mit dem attraktivsten Gottesdienst. Und zudem packe ich in meine spirituellen Aktivitäten auch noch etwas Yoga mit rein.

In der Stadt lassen sich die Vorlieben also gezielter ausleben?
Genau. Interessanterweise stellen wir in grossen Städten sogar fest, dass die Tendenz zur Mitgliedschaft in einer Freikirche ansteigt, weil auch die hochreligiösen Menschen dank der Anonymität weniger kritischen Blicken ausgesetzt sind. Sogenannte Jugendkirchen sind Stadtphänomene. Umgekehrt fällt es Menschen in den engeren Sozialräumen auf dem Land schwerer, über ihre religiösen Bedürfnisse zu sprechen. Auch deshalb funktionieren neue, experimentelle Formen von Kirche in Städten besser.

Welche Unterschiede zwischen urbanen und ruralen Gemeinden stellen Sie bei den Kirchenaustritten fest?
In der Stadt ist das Austrittsverhalten stärker ausgeprägt. Es zeigt sich aber, dass die ländlichen Gebiete den gleichen Prozess durchmachen – einfach etwas verzögert.

Lassen sich auch zwischen den Konfessionen Unterschiede feststellen?
Grundsätzlich sind die wirklich ländlichen Gebiete in der Schweiz eher katholisch geprägt. Und die katholische Kirche hat grundsätzlich mehr Gemeinschaftsangebote im Repertoire. Wer daran teilnimmt, stärkt die eigene Kirchenbindung. Das könnte dazu führen, dass die eher urban geprägten Reformierten die Austrittswelle stärker zu spüren bekommen.

 

Nachgefragt

Tobias Keller, Meinungsforschungsinstitut «gfs.bern».
Tobias Keller, Meinungsforschungsinstitut «gfs.bern».

Herr Keller, wie stark ist der Stadt-Land-Graben in der Schweiz ausgeprägt?
Nur punktuell. Grundsätzlich ist die Schweiz zu kleinräumig, und die Schweizerinnen und Schweizer sind sehr mobil, wodurch viel Wohlwollen und Verständnis für die Anderen vorhanden ist.

Was zeichnet den Stadt-Land-Graben aus?
Wenn ein Stadt-Land-Graben ersichtlich ist, dann liegt das an unterschiedlichen Lebenswelten und -prioritäten. Beispielsweise sind progressivere Themen eher städtisch geprägt, während konservative Haltungen vermehrt auf dem Land zu finden sind.

Fokus Stadt und Land

Zwischen Alphorn und Yogamatte

Seit Jahren bewirtschaftet die Politik den Stadt-Land-Graben. Der Fokus Stadt und Land geht der Frage nach, ob es diesen Graben auch in der reformierten Kirche gibt. Ticken die Gläubigen im Münstertal anders als jene in Schwamendingen? Steht die Kirche auf dem Land noch im Dorf? Und wie funktioniert Kirche in der Stadt?

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Christoph Sigrist war Pfarrer in Stein im Toggenburg und am Zürcher Grossmünster. Er hat zu Bauern wie zu Bankern gepredigt und weiss, wie die Menschen auf dem Land und in den Städten ticken. Ein Beitrag zum Fokusthema Stadt und Land.
Hier kennt man sich

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Regine Hug ist Pfarrerin im ländlichen Sitterdorf im Kanton Thurgau. Sie schätzt die kurzen Wege in der Kirchgemeinde und den direkten Draht zu den Menschen. Und sie hat Ideen, wie kleine Kirchgemeinden überleben können.