News aus dem Kanton St. Gallen

Singen löst Beben aus

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21.09.2020
Im Gesang kann man seine Angst und Not ausdrücken, sich Gott anvertrauen.

Annegret atmet auf. Die Töne fliessen aus ihr heraus und hinterlassen ein wohliges, warmes Gefühl. Fast wäre sie nicht zur Chorprobe gegangen. Aber dann hat sie sich einen Ruck gegeben. Jetzt ist sie froh darüber. Seit Langem spürt sie etwas Leichtigkeit, man könnte fast sagen Vergnügtheit, in sich. Einige Monate ist es nun her, dass ihr Mann verstorben ist. Danach konnte sie einfach nicht mehr singen. Der Kloss im Hals sass zu fest, die Tränen standen zuvorderst. Aber sie sass in der Kirchenbank und hörte zu. Sie fühlte sich aufgehoben im Klang der Stimmen der anderen. Sie schienen für sie mitzusingen.

«Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas zu Gott und stimmten Lobgesänge an, und die anderen Gefangenen hörten zu. Da gab es auf einmal ein starkes Erdbeben, und die Grundmauern des Gefängnisses wankten. Unversehens öffneten sich alle Türen, und allen Gefangenen fielen die Fesseln ab.» (Apostelgeschichte 16,25f.)

Kehle verstopft mit Unrat
Und auf einmal ist der Moment da, an dem sie ihren Mund wieder öffnet und atmen kann. Etwas von ihrer Last fällt ab. Zusammen mit den anderen ist sie ein Teil eines grossen Ganzen. Sie wird gebraucht im Klangbild des Chores. Gott hört auch ihre Stimme. Von Probe zu Probe wächst ihr neue Kraft zu. Manchmal merkt sie: Heute geht es nicht so gut. Ihr Körper erzählt ihr, wie es ihr geht, wenn der Atem wieder stockt und der Brustkorb weh tut vor Anspannung. Dann zwingt sich Annegret nicht, singt etwas leiser und sanfter. Aber die Lieder lassen ihren Atem nicht zum Stillstand bringen. Und meistens, da geht ihr Inneres auf wie ein Ventil. Dann entweicht die Ohnmacht, und Weite macht sich in ihrer Seele Platz. In der hebräischen Sprache ist das Wort für Kehle und Seele dasselbe. Diese Verbindung merkt auch Annegret. Wenn sie mit Unrat verstopft sind, helfen Lieder. Und auch, wenn die Enkelkinder sie besuchen und sie vor Dankbarkeit nicht weiss, wohin. Dann fühlt sie sich wie ein grosses Halleluja, von Kopf bis Fuss.

Singen hat eine enorme Wirkung
Eine enorme Wirkung hat das Singen! Es verbindet Paulus, Silas und Annegret mit Gott. Im Singen können sie ihre Angst und Not ausdrücken, sich Gott anvertrauen. Sie geben ab, um frei zu werden. In allem Chaos ist eine Wirklichkeit gegenwärtig, die sie im Dunkeln des Gefängnisses zunächst nur schwer wahrnehmen können. Aber durch den Gesang sehen sie über Kerker, Fesseln und Tod hinaus. Das bewegt alles. Zuallererst in ihnen selbst und auch bei denen, die sie hören. So geschehen Wunder. 

 

Text: Manuela Schäfer, Pfarrerin, Berneck | Foto: Pixabay  – Kirchenbote SG, Oktober 2020

 

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