«Religionen haben mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede»
Vertreibung von Hunderttausenden Armeniern aus Bergkarabach oder der blutige Krieg zwischen Israelis und Palästinensern im Nahen Osten: Auch wenn es um Politik und Macht geht, spielt die Religion in diesen Konflikten im Hintergrund eine grosse Rolle.
Dessen sind sich die rund dreissig Besucherinnen und Besucher bewusst, die Anfang November in den engen Räumen des islamischen Lernforums in Olten sitzen. Einige mit Kopftuch, andere in orangefarbener Mönchskutte oder in Alltagskleidung. Im Rahmen der Woche der Religionen findet hier an der Jurastrasse eine Veranstaltung zum Thema «Es ist Zeit, die Polarisierung zu überwinden» statt.
Extreme bestimmen den Diskurs
Die Teilnehmenden kommen aus den verschiedensten Kirchen und Religionsgemeinschaften rund um Olten. Allen gemeinsam ist an diesem Abend: Sie sitzen in Socken auf der langen Couch. Ihre Schuhe warten im Eingangsbereich. Gastgeber Göhkan Karabas, Vizepräsident der Stiftung Lernforum, und Mario Hübscher, katholischer Pfarrer in Olten, führen durch den Abend. «Heute bestimmen die Extreme den gesellschaftlichen und religiösen Diskurs», stellen die Besucher fest. Man demonstriere für die Ukraine, für Palästina oder für Israel. Friedensmärsche hingegen, wie es sie früher gegeben habe, seien selten geworden. Auch die Medien hätten einen grossen Anteil an der Polarisierung der Gesellschaft.
Die Stimmen des Friedens
In dieser Situation sei es wichtig, auf die Stimmen der Menschen zu hören, die den Frieden unterstützen. Mario Hübscher stellt solche Stimmen vor. Zum Beispiel die Autorin Deborah Feldmann, die sich aus ihrem ultraorthodoxen jüdischen Umfeld befreite. Ein Teil ihrer Familie wurde im Konzentrationslager ermordet. Trotzdem sagt sie: «Ich lasse nicht zu, dass der Hass der Menschen mich zu einem Menschen macht, der andere hasst.» Oder Farid Ahmed, Opfer eines antiislamischen Anschlags, der sagt: «Wir wollen unsere Herzen frei halten von Hass, Depression, Wut und Verzweiflung,» Und schliesslich zitiert Hübscher eine Jüdin und eine Palästinenserin, die sich für den Dialog zwischen den beiden Lagern einsetzen: «Wir wollen den Jugendlichen vermitteln, dass sie ein Recht auf ihre Gefühle haben, aber kein Recht darauf, anderen Menschen damit zu schaden.»
Interreligiöser Dialog ist auch eine staatliche Aufgabe
Im Kanton Solothurn ist der interreligiöse Dialog auch eine staatliche Aufgabe. Entsprechend fördert ihn der Kanton. Er unterstützt sowohl die Organisation des «Runden Tisches der Religionen» wie auch die «Woche der Religionen». Ziel ist es, das gegenseitige Verständnis zu fördern. Der Runde Tisch der Religionen besteht im Kanton Solothurn seit 2008. Vertreten sind die Religionsgemeinschaften Christentum, Islam, Buddhismus, Hinduismus, Alevitentum, Sikh und Baha’i.
Was bringt der interreligiöse Dialog? «Einerseits verlangt Gott von uns, dass wir offen sind für andere Religionen», sagt Göhkan Karabas. Das sei auch aus weltlicher Sicht wichtig für das Zusammenleben. «Wer sich abschottet und sich nur unter Gleichgesinnten bewegt, schränkt sein Leben ein. Gerade in einer globalisierten Welt.» Im Austausch stellt Karabas fest, dass die Religionen mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede haben. «Allen geht es um Frieden. Wer im Namen seines Glaubens Krieg führt oder gegen andere hetzt, missversteht die Heiligen Schriften – bewusst oder unbewusst.»
Sascha Thiel, reformierter Pfarrer aus Dulliken, nimmt dieses Jahr zum ersten Mal am «Runden Tisch» der Religionen teil. Er bedauert, dass «dieser Dialog bei der reformierten Kirchenbasis und bei den Behörden nicht angekommen ist und nur einzelne Reformierte die Veranstaltung besuchen». Im Moment sei man in Olten stark mit dem Projekt «Zukunftskirche» beschäftigt. Dabei werde übersehen, dass die Reformierten, wenn sie als Kirche eine Zukunft haben wollen, mit allen Sozialpartnern und Religionsgemeinschaften zusammenarbeiten müssten.
Inzwischen tauschen sich die Teilnehmenden über das Friedenspotenzial ihrer Religionen aus. Zitate aus der Bibel und dem Koran werden ausgetauscht und sie stellen erfreut fest, wie ähnlich manche Aussagen sind. Für ihn sei ein solcher Dialog ein Ort Gottes, fasst Mario Hübscher den Abend zusammen.
«Religionen haben mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede»