Raus aus dem Elternhaus
Ein Vater hat zwei Söhne. Der eine lässt sich sein Erbe auszahlen, er verlässt den väterlichen Hof und verprasst das Geld in der Fremde. Arm und abgerissen kommt er zurück und wird dennoch liebevoll vom Vater aufgenommen. Der zweite Sohn, der auf dem Hof geblieben ist und den Betrieb weitergeführt hat, betrachtet missmutig das Freudenfest, das der Vater für den heimgekommenen Sohn ausrichtet.
Ein Vater hat zwei Söhne, eine Mutter hat zwei Töchter, ein Paar hat zwei Kinder. Eine übliche Familiensituation. Wenn Kinder erwachsen werden, dann folgt das Unvermeidliche: Sie lösen sich von den Eltern und suchen einen eigenen Platz in der Welt. Erwachsen werden ist keine einfache Zeit, für Eltern nicht, aber für die Kinder auch nicht.
Die Brave und die coole Revoluzzerin
Die Geschichte vom verlorenen Sohn beschreibt zwei grundverschiedene Wege, wie Kinder auch heute noch erwachsen werden. Das eine ist neugierig, wagemutig und bereit für Neues, das andere ist bedacht auf Sicherheit und Bewährtes. Das erste nimmt von den Eltern, was es bekommen kann. Es macht sich auf in ein fernes Land und probiert sich aus. Das andere bleibt, lernt fleissig und zuverlässig den Beruf des Vaters und übernimmt den elterlichen Betrieb.
Was uns das Gleichnis da zeigt, sind Familienkonstellationen, die man oft beobachten kann. Ein Kind geht weg, bricht aus der Welt der Eltern aus und lebt sein eigenes Leben. Meistens ist das dann die coole Revoluzzerin. Ein zweites Kind bleibt, lebt das Leben, das die Eltern und vielleicht auch schon die Grosseltern gelebt haben: in der gleichen Branche, im gleichen Dorf, vielleicht sogar auf dem gleichen Grundstück. Das erste Kind will ein eigenes Leben. Das zweite will das bewährte weiterführen, es will wissen, wer es ist, auf den Schultern der Generationen vor ihm oder ihr. Es spielt auf Sicherheit.
Wer wirklich verloren ist
Das Gleichnis heisst ja «Vom verlorenen Sohn». Es scheint in allen bekannten Auslegungen immer klar, dass das verlorene Kind das ist, das weggeht und in der Ferne scheitert. Das brav zu Hause gebliebene geht nicht verloren und muss deshalb auch nicht gefunden werden. Es hat Heimat, Sicherheit, Anerkennung, Tradition. Trotzdem frage ich mich, ob das «verlorene» Kind auf seinem Weg nicht auch etwas gefunden hat: Erfahrungen, ein anderes Leben, einen anderen Blick auf die Welt. Fundstücke, die das zu Hause gebliebene Kind sich gar nicht erst traut zu vermissen. Und dann frage ich mich und Sie, welches von beiden ist nun wirklich das verlorene?
Text: Andrea Hofacker, Pfarrerin, Rebstein-Marbach | Bild: wikimedia – Kirchenbote SG, Mai 2020
Raus aus dem Elternhaus