News aus dem Kanton St. Gallen

Querkirchen fürs Ohr, Hausorgeln fürs Herz

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22.12.2019
Trotz nachgesagtem kunstfeindlichem Ruf: Die reformierte Tradition hat kreative Kunstschaffende und neue Formen hervorgebracht, etwa im Toggenburg. Inzwischen gehen die Künste vermehrt fruchtbare Verbindungen mit reformierten Kirchgemeinden und Gottesdiensten ein.

Ewigkeitssonntag: In der Ebnater Kirche sind abstrakte Bilder der einheimischen Künstlerin Rosmarie Abderhalden ausgestellt. Sie thematisieren Verlust und Wege zurück ins Leben. Pfarrerin Esther Schiess nimmt sie im Gottesdienst zum Ausgangspunkt für Gedanken und Gedenken. Im Chor der schlichten, hellen Grubenmannkirche sind die Gemälde ein Blickfang, berühren im Zusammenspiel mit poetischen Texten und improvisierter Klaviermusik die Anwesenden. 

«Die Reformatoren Zwingli und Calvin waren keineswegs Banausen, die die Künste generell verdammten.»

Kunstfeindliche Reformatoren?
Wie in Ebnat-Kappel hat sich die Kunst – nach teils stürmischem Rausschmiss vor rund 500 Jahren – die reformierten Kirchen längst zurückerobert. Diese werden nicht nur als Ausstellungsräume, Konzertsäle oder Bühnen genutzt. In ihnen finden auch Kunst-, Tanz-, Theater-, Literatur-, Musik- und weitere Kunstspartengottesdienste statt. Den ersten Reformatoren wären solche Liturgien ein Gräuel gewesen – dabei waren sie keineswegs Banausen, die die Künste generell verdammten: Zwingli komponierte und gründete die erste Zürcher Musikschule; in Bern prangerten Niklaus Manuels Fasnachtsspiele den Protz der römischen Kirche an. Selbst der gestrenge Calvin fand sich «nicht so kleinlich zu urteilen, dass man überhaupt kein Bild dulden oder ertragen dürfte».

Trennung von Kirche und Kunst
Doch im Gotteshaus hatten Statuen, Bilder, Instrumente etc. nichts zu suchen – weil ihre Verwendung keine biblische Grundlage hatte, weil sie das erste oder zweite Gebot verletzten, Verschwendung zulasten der Armen waren oder schlicht vom Wort Gottes ablenkten. In den calvinistischen Niederlanden brach deshalb die Nachfrage für religiöse Malerei zusammen. Doch die Künstler fanden im erstarkenden Bürgertum des 17. Jahrhunderts neue Käufer. Diese bevorzugten statt biblischer Szenen Stillleben oder Darstellungen ihres Alltags. Unversehens begünstigte hier die strikte reformierte Liturgie ein Goldenes Zeitalter der Malerei, das den Kunstmarkt umkrempelte und einer breiteren Schicht öffnete.

Bauten fĂĽr das Wort
Eine Kirche, die sich ganz dem Wort zuwenden will, stellt den Ort der Verkündigung ins Zentrum. Bei bestehenden Bauten richten deshalb die Reformatoren die Bänke auf die Kanzel aus, bestuhlen auch den Chorraum. Vielerorts stehen zudem Abendmahlstisch und Taufstein zentral – die Orte der zwei verbliebenen Sakramente. Für neue Kirchen verwenden aber Baumeister wie der Teufener Grubenmann meist herkömmliche Grundrisse, so in Brunnadern oder Ebnat. Als einzige originär reformierte Bauform entstehen vor allem im 18. Jahrhundert Querkirchen: Die Kanzel ist zentral an einer Längsseite positioniert, die oft auf drei Seiten von Bänken und Emporen eingefasst wird. Querkirchen baut Grubenmann in Wädenswil, Speicher oder Altnau. In Wattwil errichtet Felix Kubly 1848 eine grosse (zunächst paritätische) Kirche.

Passion der Bilder
Wer die Wattwiler Kirche besucht, stösst im Foyer auf «Das grosse Gastmahl» von Willy Fries (1907 – 1980). Falls man Malerei im Kanton St. Gallen des 20. Jahrhunderts überhaupt noch sinnvoll mit Konfessionen schubladisieren kann, so ist Fries ein reformiertes Pendant zum Katholiken Ferdinand Gehr (1896 – 1996). Während des Aufstiegs der Nationalsozialisten studiert Fries in Berlin, wird geprägt von Kontakten zur bekennenden Kirche um Bonhoeffer. Er kehrt in seinen Geburtsort Wattwil zurück, heiratet eine Pfarrerstochter. Ohne Auftrag, aus innerem Antrieb, entstehen aufsehenerregende christliche Bilderzyklen. Die für ihn bleibende Aktualität des Evangeliums treibt er für manche bis an die Schmerzgrenze: Die Passionsgeschichte malt er nicht in einem antiken Palästina, sondern im Hier und Jetzt. Jesus wird auf dem Wattwiler Dorfplatz vorgeführt und vor der Kulisse der Churfirsten ans Kreuz geschlagen. Seine Schergen tragen Uniformen der Schweizer Armee, Schmäher die Gesichtszüge von realen Dorfbewohnern. Fries erhält diverse Aufträge in der Ostschweiz und Deutschland und bleibt dennoch eine Randerscheinung – weil religiöse Kunst in der Nachkriegszeit zur Nischenkunst wird.

Orgeln fĂĽr den Hauskreis
200 Jahre früher, in einer speziellen Nische gelebten reformierten Glaubens, entsteht im Toggenburg eine eigene Instrumententradition: Obwohl die Kirchenorgeln nach ihrer Verbannung hierzulande wieder installiert werden, entstehen über 70 Jahre hinweg gut 100 Toggenburger Hausorgeln. Begüterte reformierte Familien lassen sich diese mit Malereien und Schnitzwerk reich verzierten Instrumente in ihren Firstkammern aufstellen. Die Orgel begleitet den Psalmengesang bei der wöchentlichen Laienandacht – quasi ein Hauskreis. Viele Toggenburgerinnen und Toggenburger dieser Zeit fühlen sich nämlich vom nüchternen Gottesdienst der Amtskirche nicht mehr angesprochen. Sie bevorzugen die Religiosität des aufkommenden Pietismus. Der Ebnat-Kappler Jost Kirchgraber, Germanist und Kunsthistoriker, beschreibt sie wie folgt: «Wichtig war, die religiösen Inhalte wieder mehr emotional erleben zu lassen, weniger vom Kopf als vom Herzen her. Und dies mit Hilfe von Sinnlichkeit.»

Vermittelnde Kunst
Offensichtlich existiert auch im 21. Jahrhundert das Bedürfnis nach Andachtsformen, die sich nicht im intellektuellen Anspruch erschöpfen. Pfarrerin Esther Schiess nimmt wahr, dass viele Reformierte lange Predigten nicht mehr schätzten. Der reformierte Gottesdienst lebe davon, mit unterschiedlichen Elementen unterschiedliche Menschen anzusprechen, auch gewohnte Bahnen zu verlassen und zu überraschen. Sie habe mit solchen Ansätzen sehr gute Erfahrungen gemacht, häufig auch bei distanzierten Kirchbürgerinnen und Kirchbürgern: «Kunst spricht Menschen auf einer nicht-kognitiven Ebene an, anders als das Wort. Das ist mir heutzutage wichtig, da wir überall ‹zugetextet› werden und so vieles nur über den Kopf geht.» Aufgrund solcher Erfahrungen wird zwar nicht der Ruf nach spezifisch reformierter Kunst laut; die konfessionellen Milieus, nach denen sich zeitgenössische Kunstschaffende, Formen und Werke eindeutig zuordnen liessen, haben sich praktisch aufgelöst. Doch inzwischen ist Kunst allgemein, in ihren religiösen wie weltlichen Spielarten, für die reformierte Kirche zu einer wertvollen Vermittlerin und Brückenbauerin geworden. 

 

Text: Philipp Kamm, Ebnat-Kappel | Fotos: KG Mittleres Toggenburg, Ackerhus, Fries-Stiftung  – Kirchenbote SG, Januar 2020

 

 

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