News aus dem Kanton St. Gallen

«Non, rien de rien, non, je ne regrette rien»

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01.01.2016
Nach Zeiten der Verdrängung wird heute erneut entdeckt, wie uns das Gedenken unserer Sterblichkeit das Leben tiefer schätzen lässt. Dazu Gedanken einer Spitalseelsorgerin.

Als junge Theologiestudentin hat mich die Vorstellung sowohl beeindruckt als auch irritiert, dass mittelalterliche Mönche und Nonnen einen Totenkopf auf ihrem Schreibpult platziert hatten, um sich selbst an die eigene Vergänglichkeit zu erinnern («memento mori»).

Es gehörte zur damaligen «ars moriendi», der Kunst resp. der Fähigkeit zu sterben. Anders als heute, wo ich öfters den Wunsch höre: «Ich möchte, dass es plötzlich passiert oder dass ich einfach einschlafe, ohne es zu merken», war im Mittelalter die Vorstellung, unvorbereitet oder plötzlich zu sterben, schlimm. Ein bewusstes und vorbereitetes Sterben gehörte zum Ideal, sowie das Abschied nehmen von seinen Lieben.

Sterbevorbereitungskurse?
Kann man aber Sterben überhaupt lernen? Analog zu Geburtsvorbereitungskursen Sterbevorbereitungskurse? Eine verrückte Vorstellung. Und so wie es leichte und mühelose Geburten gibt, aber auch schwere, schmerzhafte, so ist auch Sterben manchmal leicht, eine grosse Befreiung, eine Vollendung und Reifung bis zum letzten Atemzug, ein sanftes Hinübergleiten in die andere Welt. Und manchmal ist es schwer, hart, bitter, viel zu früh, grausam, ein Kampf bis zuletzt.

Doch die Frage hat mich nicht losgelassen, ob es nicht eine heutige Form von «ars moriendi» bräuchte, eine moderne, die der jetzigen Zeit entspricht. Geht es doch heute nicht mehr darum, den Körper und die Diesseitigkeit abzuwerten und zu vernachlässigen.

«Unser ganzes Leben ist eigentlich ein Prozess, der uns vorbereitet auf das Sterben.»


Nach einer langen Zeit der Todvergessenheit und des Verdrängens desselben in unserer Gesellschaft ist es Pionierinnen wie Elisabeth Kübler-Ross zu verdanken, dass sich dies zu ändern begann und heute mit der nationalen Strategie «Palliative Care» das Sterben mit all seinen Fragen in unser Bewusstsein rückt. Dies macht uns erneut bewusst, was trotz allen Versuchen, körperliche Ewigkeit zu erlangen durch Kältekonservierung, zu den Grundbedingungen unseres Menschseins gehört: Wir werden einmal in diese Welt hineingeboren und wir werden einmal sterben.

Das Tibetanisches Totenbuch
Bücher wie das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben erleben Millionenauflagen und sind damit offensichtlich in ein Vakuum gestossen. Und sie zeigen auf, dass es spirituelle Traditionen gibt, die sich seit Jahrhunderten nicht nur mit dem Sterben auseinandersetzen, sondern auch mit dem «Danach». Es ist das Geschenk des tibetischen Buddhismus an uns Menschen im Westen, dass auch wir uns wieder zurückbesinnen können auf die spirituelle Dimension des Sterbens und somit des Lebens selbst.

«Aber wirklich wissen tue ich nicht, bevor ich es nicht erfahren habe ...» 

Als Frau, die beruflich viel mit Sterben zu tun hat, die aber auch schon persönlich mit dem eigenen möglichen Tod konfrontiert wurde, realisierte ich, wie eng die Frage des Sterbens mit dem Leben verknüpft ist. Es ist sowohl Geschenk als auch Privileg, sich selbst der Frage des Lebens und des Sterbens stellen zu können. Es ist Geschenk, weil Sterbende, aber auch Überlebende mich selbst immer wieder zur Frage geführt haben: Was heisst bewusstes Leben für mich? Und Privileg ist es, weil ich mir überhaupt dazu Gedanken machen kann und nicht damit beschäftigt bin, täglich für mein oder meiner Kinder nacktes Überleben zu kämpfen. So gehört es zu meinen wichtigsten Erkenntnissen, dass eine «ars moriendi» immer eine «ars vivendi» ist, eine Kunst zu leben. Unser ganzes Leben ist eigentlich ein Prozess, der uns vorbereitet auf das Sterben. Und da sind wir bei den ganz gros­sen Fragen: Was heisst Leben? Was heisst es für mich? Was heisst Leben für Sie, liebe Leserin, lieber Leser?

Wie lebe ich?
Es mag als banale Frage erscheinen, doch es ist eine wesentliche: Wie lebe ich? Lebe ich überhaupt oder werde ich gelebt? Was dient dem Leben? Was dient ihm nicht oder verneint es? Soll ich so leben, als könnte jeder Tag mein letzter sein? Oder lieber so, als hätte mein Leben überhaupt kein Ende? 

Beide Haltungen können hilfreich sein. In der ersten Haltung lebe ich bewusst abschiedlich, nehme jeden Tag neu und vollende ihn. In der zweiten Haltung plane ich meine Zukunft, enthebe mich aber von allen Gedanken wie: Jetzt musst du sofort alles vollenden, denn morgen könnte es zu spät sein dafür. Meine Haltung ist daher ein Sowohl-als-auch.
«Non, rien de rien, non, je ne regrette rien», singt Edith Piaf unvergesslich. Und dies hängt für mich mit der Fähigkeit zu leben zusammen. Leben heisst für mich nicht, ein vollkommenes Leben zu führen und keine Fehler zu machen. Ich irre mich, ich verletze und werde verletzt, ich täusche mich und werde getäuscht. Ich nehme Chancen wahr und verpasse andere. Ich entscheide mich für einen bestimmten Weg und schliesse damit andere Möglichkeiten aus.

Doppelgebot der Liebe
Aber ich möchte so gehen können, dass ich mit dem Leben, so wie ich es geführt habe, versöhnt bin. Mit allem, was mir gelungen ist, mit allem aber auch, woran ich gescheitert bin. Ich frage dabei mit Gilles Tschudi («Zu Ende denken», S. 60 ff.): «Was heisst l(i)eben für mich?» Und das ist der Massstab für mein Leben: Jesu Doppelgebot der Liebe. Daran halte ich mich im Leben wie im Sterben. Im Wissen darum, dass es die Liebe ist, die ewig ist, die bleibt, die den Tod überwindet. Nein, ich weiss nicht, wie sterben geht. Was danach kommt, weiss ich auch nicht. Natürlich gibt es Nahtoderfahrungen von einer wachsenden Zahl von Menschen. Vielleicht werden sogar die Grenzen zwischen Tod und Leben durchlässiger, fliessender.

Natürlich habe ich Vorstellungen, Projektionen. Aber wirklich wissen tue ich nicht, bevor ich es nicht erfahren habe, bevor ich nicht zu diesem Ursprung, aus dem ich herkomme, aus dem jede menschliche Seele kommt, zurückkehre.
Aber ich weiss eines: Liebe bleibt, Liebe ist ewig. So kann ich leben – und sterben. Aus der Perspektive der Liebe betrachtet, gibt es keinen Tod. 

 

Text: Annette Spitzenberg, St.Gallen | Bilder: Ferdinand Hodler  – Kirchenbote SG, November 2015

 

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