Nimmt die Seele Schaden?
Es gibt wenige Verse der Bibel, die ich ausserhalb des kirchlichen Umfelds kennengelernt habe. Aber diesen Satz prägte eine tüchtige Sekundarlehrerin ihren Schülern in der Grammatikstunde ein. Er sollte ein Beispiel für den Konjunktiv II, den Irrealis sein.
Können wir Schaden an unserer Seele nehmen? Als Gemeindepfarrerin und Seelsorgerin im Untersuchungsgefängnis erlebe ich unterschiedliche Seelsorgesituationen. Im Gemeindepfarramt findet Seelsorge oft bei grossen familiären Ereignissen statt. Da steht sie häufig in Verbindung mit der Vorbereitung für einen Gottesdienst. Die Emotionen wie Freude, Ängste oder Trauer sind präsent, und wir Pfarrpersonen versuchen mit unseren biblischen und spirituellen Grundlagen, die Menschen zu begleiten.
Lasten mittragen, Klage ertragen
Im Untersuchungsgefängnis kenne ich die Menschen zuvor kaum. Sie suchen jemanden, der erst einmal ihrer Geschichte zuhört, der ein Stück weit die Last der Einsamkeit und Ungewissheit mitträgt, der Klage erträgt, der hilft, in ihrer Welt, die aus den Fugen geraten ist, einen roten Faden zu finden.
«Oft, wenn wir dem Leiden ausweichen wollen, richten wir Schaden an.»
Menschen haben ein ganz natürliches Bedürfnis, dem Leiden auszuweichen. Wir möchten gerne Freunde haben, gesund sein, eine gute Arbeit haben und Mittel, um unser Leben zu bestehen. In den Evangelien ist es der Jünger Petrus, der seine menschlichen Wünsche und Vorstellungen ausspricht. Das tut er auch, als Jesus sein Leiden ankündigt; er versucht, Jesus von diesem Weg abzuhalten. Genau da widerspricht Jesus Petrus deutlich. Er sagt ihm den berühmten Satz: «Wer mir nachfolgen will, der nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.» (Mat. 16,24) Ich bin überzeugt, dass das nicht bedeutet, dass wir künstlich Leiden suchen sollten – aber umgekehrt ist es eine Lebenswahrheit, dass wir oft, wenn wir dem Leiden ausweichen wollen, Schaden anrichten.
Tüchtigkeit rettet die Seele nicht
In der Seelsorge ganz allgemein geht es oft darum zu unterscheiden, wo ist eine Lebenssituation schwierig und muss akzeptiert werden, und wo sind eigene Taten und Vorstellungen, die Not und Probleme bringen. Das Besondere am christlichen Glauben nämlich ist: Unser Tüchtig- und Gutsein kann unsere Seele nicht retten, sondern der Glaube, dass letztlich jeder von uns Gottes Gnade braucht. Diese Haltung den Mitmenschen gegenüber hat im Gefängnis eine besondere Note. Hier sind Menschen von der Justiz angeklagt und müssen für ihre Taten geradestehen. So sind die Gespräche mit dem Seelsorger manchmal nur ein einfaches Erzählen und Ordnen – manchmal ist die Klage das Hauptthema. Von meiner Seite geht es nicht darum, Ratschläge zu geben oder Erfahrungen auszutauschen, sondern das Gegenüber sprechen zu lassen, Verständnisfragen zu stellen, Ohnmacht auszuhalten. Nicht immer schliesst ein Gebet das Gespräch ab; eine andere Möglichkeit, ein Fenster für die Seele zu öffnen, sind Bilder. Ich habe eine Sammlung von Postkarten mit Bibelversen oder religiöser Symbolik bei mir. Die Sorgfalt, mit der die Insassen ihre Karte auswählen, berührt mich immer wieder neu.
Text: Brigitta Schmidt, Pfarrerin in Ganterschwil – Kirchgemeinde Unteres Toggenburg | Zeichnung: Ramona – Kirchenbote SG, Ausgabe November 2016
Nimmt die Seele Schaden?