News aus dem Kanton St. Gallen

Nacktheit hat viele Gewänder

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01.07.2021
Ob in der Bibel, der Kunst, im täglichen Leben oder in der Sprache: Der kleiderlose Zustand löst Empörung aus, wird hier anders interpretiert oder dort als Mittel zum Zweck eingesetzt. Eine Zusammenstellung ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Ist nackt einfach nackt?

Nackt: Am menschlichen Körper fehlen Kleidung, Schmuck und Gegenstände gänzlich. Nacktheit kann sich aber auch nur auf das Fehlen der Kleidung beziehen. Nacktheit bezeichnet ein sehr weites Spektrum an Emotionen und Befindlichkeiten und der Sichtbarkeit von Bereichen des Körpers, die üblicherweise aus normativen, hygienischen oder klimatischen Gründen von Kleidung bedeckt sind. Nacktheit wird also sowohl definiert durch die Abwesenheit als auch die Anwesenheit von Kleidung, Schmuck und Gegenständen. Man kann demnach zunächst zwischen vollständiger Nacktheit (splitternackt) und teilweiser Nacktheit (halbnackt) unterscheiden. Nacktheit kann einen unbedeckten Fuss meinen, dessen Sichtbarkeit keinen kulturellen Tabus unterliegt, oder das Entblössen des nackten Hinterns (blank ziehen) in der Öffentlichkeit. Auch ein Kiltträger kann, wenn er auf Unterwäsche verzichtet, trotz oberflächlicher Bekleidung, als unter dem Schottenrock nackt bezeichnet werden, so besagt es jedenfalls Wikipedia. Nacktheit, so muss angenommen werden, hatte seit je her verschiedene Arten und Grade. Die Bedeutung von «nackt» ist also ein kulturelles Konstrukt.

 

«Ich war nackt und ihr habt mich bekleidet»

Nicht nur im persönlichen Bereich, sondern auch in der christlichen Kunst ist Nacktheit ein sensibles Thema, namentlich, was die Nacktheit Jesu anbelangt. Lediglich die Geburts- und Taufszene im Jordan rechtfertigten eine Entblössung Christi. Dies änderte sich ab dem 14. Jahrhundert. Und vor allem in der Renaissance wagten es Künstler, Jesus Christus auch während der Passion nackt und ohne Lendentuch darzustellen. Michelangelos «Jüngstes Gericht», das Papst Paul III. dem Künstler zugestand, fand der Nachfolger des Stellvertreters Christi 25 Jahre später völlig inakzeptabel. Die Kirchenobrigkeit bestimmte, und in der Folge gingen die «Hosenmaler» ans Werk; Feigenblätter fanden Einzug, Lendentücher – mal blickdicht, mal durchschimmernd – begannen um die Scham zu flattern. Und so widerspiegelt die Geschichte der Kunst, was als unmoralisch oder moralisch angesehen wird. Und noch bis heute verstörend wirkt der Christus im Linzer Schlossmuseum, das offenbar einzige «nackte» Kruzifix des 15. Jahrhunderts ausserhalb Italiens.

 

Nacktheit als Tabubruch

Mit Nacktheit ist ein Tabubruch verbunden, der seit jeher dazu benutzt wurde, um Aufmerksamkeit zu erregen. Allgegenwärtig ist das in der Werbung, wo die nackte oder spärlich bedeckte Haut Erotik versprühen und den (meist männlichen) Blick einfangen soll. Stars, die um mediale Aufmerksamkeit buhlen, kommen mit dem Tabubruch verbundene Skandälchen gerade recht. Schlagzeilen machten etwa die Popstars Justin Timberlake und Janet Jackson: Er riss ihr bei einem Live-Auftrittes während des Super Bowls 2004 in einer abgekarteten Aktion ein Stück Stoff vom Leib, worauf ihre entblösste Brust zu sehen war. Ein Skandal, der unter dem Stichwort «Nipplegate» in die amerikanische Fernsehgeschichte einging und zur Folge hatte, dass seither ähnliche Veranstaltungen einige Sekunden zeitverzögert ausgestrahlt werden – um allfällige Sittenwidrigkeiten notfalls noch ausblenden zu können.

 

Biblische Boutique

Nackt betritt der Mensch in der Paradieserzählung die Bibel. Als er dies erkannt hat, macht er sich eine Schürze – die erste von unzähligen biblischen Einkleidungsgeschichten. Willkommen in der biblischen Boutique!

Auch Noah kam an den Punkt, wo ihm die eigene Scham in die Quere kam. Nach der überstandenen Flut pflanzte er einen Weinberg und genoss das berauschende Getränk in rauen Mengen. Sturzbetrunken lag er im Zelt, splitternackt. Da bedeckten seine Söhne Sem und Jafet seinen Intimbereich, während sie ihm den Rücken zukehrten. «Ihr Gesicht hielten sie abgewandt, sodass sie die Blösse ihres Vaters nicht sahen», heisst es. Der Anblick seiner Scham beschämte sie. Ein nackter, sturzbetrunkener Mensch ist gewiss keine Augenweide.

Doch Kleider bedecken nicht nur. Das Anziehen von Kleidern kann auch die Übernahme einer neuen Aufgabe bedeuten: So zieht Mose dem sterbenden Aaron die Kleider aus und legt sie dessen Sohn Eleasar an, der nun in Aarons Fussstapfen tritt.

Oft ist auch Gott derjenige, der die Menschen neu einkleidet: «Du hast mein Klagen in Tanzen verwandelt, hast mir das Trauergewand ausgezogen und mich mit Jubel umhüllt», freut sich der Psalmist. So wie Gott sich «in Licht hüllt wie in ein Kleid», so soll der Mensch laut Hiob «umkleidet sein von Gerechtigkeit». Paulus schliesslich treibt die Kleidermetaphorik auf die Spitze: «Denn alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen», schreibt er den Galatern. Und wer Christus angezogen hat, der braucht sich seiner Nacktheit nicht zu schämen, könnte man ergänzen. Selbst wenn er von der verbotenen Frucht gegessen hat oder sturzbetrunken im Zelt liegt.

 

Nacktheit als Waffe

Nacktheit ist auch eine Waffe – im politischen und gesellschaftlichen Kampf. So machte die feministische Frauenbewegung Femen immer wieder mit hüllenlosen Aktionen von sich reden. An der Fussball-Europameisterschaft 2012 (unser Bild) prangerten die Aktivistinnen den Sextourismus an, indem sie «Die Ukraine ist kein Bordell» auf ihre nackten Oberkörper schrieben. In einer Hamburger Ikea-Filiale protestierten sie oben ohne dagegen, dass Ikea im saudi-arabischen Katalog sämtliche Frauen wegretouchieren liess. Die Nacktheit diente dazu, Aufmerksamkeit zu erregen. «Angezogen interessiert unsere Botschaft nicht», bestätigte Femen-Mitbegründerin Sasha Shevchenko gegenüber der «Stuttgarter Zeitung». Das Ausziehen mache die Frau vom Objekt zum handelnden Subjekt. «Wir benutzen unsere Weiblichkeit als politische Waffe im politischen Kampf. Die Männer sehen uns als Sexualobjekt. Aber jetzt schneiden die Marionetten ihre Fäden durch und handeln.»

Texte: Katharina Meier und Stefan Degen |Fotos: Femen Women’s Movement, Flickr; oberösterreichisches Landesmuseum; Alamy Stock Foto – Kirchenbote SG, Juli-August 2021

 

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