«Mit meinem Vater konnte man nicht streiten»
Peter Marti, welche Erinnerungen haben Sie an Ihren Vater?
Mein Vater war ein gütiger, wohlwollender Mensch. Gleichzeitig war er ein kritischer Geist, der sehr diszipliniert war. Er ging oft nach dem Nachtessen noch in sein Studierzimmer, um bis spätabends an seinen Texten und Predigten zu arbeiten und um zu lesen. Mein Vater war ein Theopoet. Er hat Zeit seines Lebens unfassbar viele Texte geschrieben. Dieser Umstand war mir vor seinem Ableben gar nicht so bewusst.
Man kennt Kurt Marti vor allem als mehrfach ausgezeichneten Autor und Theologen. War er auch ein Familienmensch?
Er war ein überzeugter Familienmensch und ein sehr fürsorglicher Vater. Er hat mit uns gespielt, ist Ski und Velo gefahren und hat mit uns die Berge bestiegen. Ich bin nach der 1968er-Bewegung aufgewachsen. Diese war geprägt von einem grossen Mass an Freiheit, die unser Vater uns Kindern zugestanden hat. Er hat uns nie zu etwas gezwungen, weder in der Ausbildung noch im Sport. Wir durften unsere eigene Persönlichkeit finden.
Welche Themen wurden am Mittagstisch besprochen?
Wir hatten immer viel Besuch zu Mittag. Franz Hohler, Mani Matter, Peter Bichsel sassen dann mit uns am Mittagstisch. Die Diskussionen mit diesen Persönlichkeiten waren meist sehr intellektuell geprägt. Hatten wir keinen Besuch, wurde in der Familie über Privates gesprochen.
Was verband Ihren Vater mit Friedrich Dürrenmatt?
Beide verband eine enge Freundschaft. Dürrenmatt und mein Vater hatten zusammen das Freie Gymnasium in Bern besucht, im Anschluss an der Universität Bern studiert. Er war oft bei uns zum Essen. Mit seinem Erfolg in Zürich hat sich die Beziehung dann auf den Korrespondenzweg verlagert.
Gingen die Emotionen auch manchmal hoch im Hause Marti? Etwa wenn Sie und Ihr Vater anderer Meinung waren.
Wir hatten selten Streitgespräche. Mit meinem Vater konnte man nicht streiten. Jede Form von Gewalt, auch verbale Gewalt, war ihm total fremd. Er war ein friedliebender Mensch durch und durch. Wenn es Streitgespräche gab, dann mehr über meine schulischen Leistungen, die zu wenig gut für ihn waren.
Gab es Strafen?
Es gab Strafen, wenn man die Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Oder man zum dritten Mal vergessen hatte, Klavier zu üben. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mein Vater auch nur einmal handgreiflich geworden wäre. Er konnte einen bösen Blick aufsetzen. Doch wirklich laut wurde mein Vater nie.
Wurden Sie von Ihrem Vater gläubig erzogen?
Überhaupt nicht. Meine Geschwister und ich wollten in keinerlei theologischer Form erzogen werden. Um den Konfirmations-Unterricht allerdings kam ich nicht herum. Mein Vater leitete ihn. Der Unterricht hat mich dermassen gelangweilt, dass ich immer in der hintersten Reihe gesessen bin und Hausaufgaben gemacht habe. Das wussten alle, mein Vater auch. Die zehn Kirchenbesuche, die obligatorisch waren, besuchte ich natürlich auch nicht. Kurz vor der Konfirmation hat mich mein Vater aufgefordert, wenigstens einmal in die Kirche zu kommen. Was ich dann auch gemacht habe. Er hat mich schlussendlich mit einem Augenzwinkern konfirmiert.
War Kurt Marti ein guter Lehrer?
Er sagte mir irgendwann mal, dass er es schön fände, auch jungen Menschen die Bibel nahe bringen zu dürfen. Aber er glaubte, er sei damit gescheitert. Für die Jugendlichen damals, zur Zeit von Flower Power und Woodstock, war Glaube kein Thema. Zudem war mein Vater kein Lehrer-Typ.
Ihr Vater war 60 Jahre lang glücklich mit seiner Frau Hanni verheiratet. Wie hat sie ihn geprägt?
Meine Mutter hat meinen Vater stark geprägt. Sie war eine grosse Unterstützung für ihn. So zerbrechlich sie körperlich aussehen konnte, so stark war sie mental. Sie hat nicht nur den Haushalt geführt, die Kinder versorgt, sondern sie war auch Pfarrersfrau, die meinem Vater viele fürsorgliche Verpflichtungen abnahm.
Zum Beispiel?
Stirbt jemand, ist der erste, den man anruft, der Pfarrer. Die Besprechung fand dann oft bei uns zu Hause statt. Gab es in einer Familie Streit und stand jemand mit verheultem Gesicht vor unserer Haustüre, kümmerte sich meine Mutter darum. Später setzte sie sich stark für die Migranten in Bern ein, hat Mittagstische organisiert. Natürlich hatten die beiden auch Höhen und Tiefen während ihrer Ehe. Die hatten wir als Kinder nicht so mitbekommen. Mein Vater war nach ihrem Tod sehr verloren.
Hat Hanni Ihren Vater auch in seiner schriftstellerischen Arbeit beeinflusst?
Meine Mutter war zeitlebens Sparring-Partner meines Vaters. Sie hat all seine Gedichte und Bücher als Erste gelesen und ihm Feedback gegeben.
Was waren die Höhepunkte seines Lebens?
Kleine Dinge. Für ihn waren die Spaziergänge extrem wichtig. Die Natur, die Sonne, die Wärme. Mein Vater ist nicht weit gereist, auch wenn das meine Mutter immer wollte. Mein Vater sagte immer, es gebe in der Nähe genug zu sehen. Er konnte im Detail beschreiben, welche kleinen Dinge er auf einem Spaziergang sehen konnte. Der Lupenblick war sein Ding.
Was waren die Tiefschläge in Kurt Martis Leben?
Er ist lange Zeit politisch stark angeeckt. Seine Überzeugung war ehrlich gemeint. Er war dann jeweils sehr enttäuscht, wenn gegen ihn geschossen wurde. Dass ihm die Honorarprofessur an der Universität Bern verweigert wurde, hat er nicht verstanden.
Als diesseitiger Prediger lehnte es Kurt Marti ab, Menschen auf ein Jenseits zu vertrösten. «Heute und jetzt» sollten wir leben, sagte er immer. Da stellt sich die Frage, war er von einem Jenseits und einem Gott überzeugt?
Er war von Gott überzeugt. Er hat die Bibel als ein unermessliches Schriftstück angesehen, das ihn faszinierte. Das Jenseits, als es immer näher kam, hat er eher aus einer Distanz heraus betrachtet.
Er propagierte ein Leben vor dem Tod, weil er sich nicht sicher war, ob etwas danach kommt?
Er hat nicht wirklich an ein Leben nach dem Tod geglaubt. Er hat immer gesagt, es kann etwas geben nach dem Tod, aber so richtig weiss man es nicht. Sicher war, dass er stark am Leben teilgenommen hat. Er hat sein Leben wirklich gelebt. Mit allen Höhen und Tiefen.
Würden Sie sich selbst als gläubig bezeichnen?
Ich glaube daran, dass es etwas Übernatürliches gibt. Ob es nun Katholizismus oder Protestantismus genannt wird, ist mir einerlei. Ich besuche überall auf der Welt, wo ich gerade bin, Kirchen. Ich liebe es, dort zu sitzen und in mich zu gehen.
Was würden Sie in der reformierten Kirche ändern?
Womit ich Probleme habe, ist der gesamte liturgische Aufbau, das Pathos, der Duktus häufig bei Predigten und das Singen von Psalmen. Ich verstehe nicht, weshalb die reformierte Kirche daran festhält. Das ist von gestern.
Was nehmen Sie von Ihrem Vater mit?
Ehrlichkeit. Glaubwürdigkeit. Der Umgang mit der Sprache. Ich selbst habe zwei Fachbücher geschrieben, schreibe ab und zu eine Kolumne. Ich habe wohl auch seinen Duktus, die Art und Weise wie man formuliert, von ihm mitbekommen. In meiner Funktion als Werber und Manager habe ich in den USA einige Unternehmer-Seminare geleitet. Ich war immer sehr erstaunt, wenn die Zuhörer ob meiner Rhetorik begeistert waren. Mir selbst war das gar nicht so bewusst.
Ihr Vater liebte Krimis, richtig?
Wir hatten lange keinen Fernseher im Haus. Als fussballbegeisterter Jugendlicher mussten wir zu meiner Tante gehen, wenn wir ein Match sehen wollten. Erst als wir alle ausgezogen waren, hat mein Vater irgendwann einmal einen Fernseher gekauft. Damals hat er seine Leidenschaft für Krimis entdeckt. Lustigerweise hat er liebend gern Krimis im TV gesehen, aber nie Krimis gelesen oder selbst Krimis verfasst. Das lag ihm nicht. Er sagte, nichts kann einem im Glauben an eine moralische Weltordnung mehr bestärken als Fernsehkrimis, da die Täter immer gefunden werden. Noch gibt es Gerechtigkeit, und unsere Welt bleibt fest in den Händen derer, die nur das Gute wollen und der Gerechtigkeit dienen!
Welches Gedicht von Ihrem Vater ist Ihr Lieblingsgedicht?
Kei angscht
Mir hei e kei angscht
Will me
Für angscht chönne z’ja
Kei angscht
Vor dr angscht
Dörfti ha
Mir hei e kei angscht
Es passt in unsere Covid-Zeit. Denn rund um Covid ist sehr viel Angst aufgebaut worden.
Interview: Carmen Schirm-Gasser
«Mit meinem Vater konnte man nicht streiten»