Mit Märchen Mut machen
Die Wahrheit lief, nackt wie Gott sie schuf, durch die Menschheit und niemand wollte sie aufnehmen. Die Wahrheit war traurig und weinte. Dann kam ihr eine fröhliche, quirlige Frau in vielen bunten Gewändern entgegen und sagte: «Wahrheit, weshalb bist du so traurig?» «Die Menschen wollen mich nicht», entgegnete die Wahrheit. «Ich bin das Märchen, du darfst mit mir kommen», so die fröhliche, quirlige Frau. Seither laufen das Märchen und die Wahrheit Hand in Hand durch die Welt.
«Märchen haben alle ein Körnchen Wahrheit in sich», weiss Martina Schläpfer. Sie ist ausgebildete Märchenerzählerin. Schon als Kind liebte sie Märchen, allen voran diejenigen von Trudi Gerster, der wohl bekanntesten Märchenerzählerin der Schweiz. Später, als dreifache Mutter, besuchte sie gemeinsam mit ihrer Familie einen Auftritt einer ausgebildeten Erzählerin. Am Ende blickte ihre Tochter sie an und sagte: «Mami, das kannst du besser.» Martina Schläpfer entschied sich, die Ausbildung zur Erzählerin zu absolvieren, und war von Beginn weg begeistert.
Ein armer Geselle hatte einen Traum. Er solle zu einer Brücke, dort sei sein Glück. Er machte sich auf den beschwerlichen Weg, ging zur Brücke und wartete und wartete. Da kam ein Kaufmann zu ihm und sagte, nachdem er gefragt hatte, weshalb er seit Tagen auf der Brücke stehe: «Stell dir vor, jeder würde seinem Traum nachrennen. Dann müsste ich auch zu Hans Kuschwanz’ Haus und den Schatz unter dessen Ofen ausgraben.» Da ging Hans heim und grub den Schatz unter seinem Ofen aus.
Dieses Märchen fand Schläpfer bei ihren Recherchen in verschiedenen Versionen: in der Schweiz unter dem Titel «Hans Kuhschwanz», in Japan unter dem Titel «Die Brücke Mizokai» und in der jüdischen Kultur unter dem Titel «Ein Traum geht in Erfüllung». Sie treffe bei ihren Recherchen oft die gleichen Märchenmotive in verschiedenen Kulturen. Faszinierend sei auch, dass viele Botschaften in Märchen und in der Bibel nahe beieinanderlägen: «Man kommt in eine Notlage, und wenn man Hilfe annimmt, gehen neue Türen auf. Dies sowohl in den Märchen wie auch im Leben.»
Kernbotschaft bleibt erhalten
Zwei bis drei Monate benötigt Martina Schläpfer, um eine Geschichte so zu erarbeiten, dass sie sie vor Publikum erzählen kann: «In dieser Zeit lerne ich unglaublich viel. Beim Umsetzen ist mir wichtig, dass die Kernbotschaft erhalten bleibt.» Die Märchen gibt sie gerne in kleiner Runde weiter: «Ich möchte kein grosses Stadion füllen. Es ist mir wichtig, mit Feingefühl auf die Menschen zuzugehen, ihnen mit den Märchen Mut zu machen und sie zum Lachen zu bringen.» Sie liebe es zudem, Märchen in Theater umzuschreiben. So hat sie etliche Jahre im Auftrag der Kirchgemeinde die Schulstartfeiern gestaltet.
Der Traum: eine Märchenbibliothek
Rund 20 Märchen zählt das Repertoire von Martina Schläpfer. Doch unzählige bereits Gelesene warten noch auf dem Recherche-
stapel zur Weiterverarbeitung. Zudem besitzt sie einen grossen privaten Schatz an Märchenbüchern. Ihr Traum ist es, eine eigene Märchenbibliothek zu eröffnen. «Noch fehlen mir einige Märchen und auch der geeignete Raum dazu. Die Bibliothek möchte ich öffentlich machen, damit alle Interessierten die Märchen ausleihen, mitlesen und mitrecherchieren können.»
Mit Märchen Mut machen