Mehr als 1000 Übergriffe aufgedeckt
Verschwiegen, vertuscht, bagatellisiert: Die Historikerinnen Monika Dommann und Marietta Meier belegen, dass in der katholischen Kirche in der Schweiz Priester, Ordensleute und andere katholische Würdenträger sexuellen Missbrauch begangen haben. Die Übergriffe oder Missbräuche ereigneten sich laut den Studienleiterinnen vor allem im Rahmen der Seelsorge (etwa bei Beichtgesprächen), im Ministrantendienst oder im Religionsunterricht. Priester verletzten die Integrität der Betroffenen auch im Rahmen ihrer Tätigkeiten in Kinder- und Jugendverbänden. Weiter kam es häufig in katholischen Heimen, Schulen oder Internaten zu Grenzüberschreitungen oder Missbräuchen.
Übergriffe blieben ohne Konsequenzen
Die Übergriffe blieben ohne Konsequenzen, wie die Historikerinnen festhalten. «Kirchliche Verantwortungsträger versetzten beschuldigte oder überführte Kleriker systematisch, auch ins Ausland, um eine weltliche Strafverfolgung zu vermeiden und einen weiteren Einsatz der Kleriker zu ermöglichen.» Die Studie wurde von der Schweizer Bischofskonferenz und weiteren katholischen Organisationen in Auftrag gegeben.
Die Forscherinnen regen an, die Studie fortzuführen und auszuweiten. Ihre Arbeit bilde die Basis für weitere Untersuchungen. Im Zentrum könne etwa die Frage stehen, ob katholische Spezifika wie das Zölibat sowie das Verhältnis zur Homosexualität den sexuellen Missbrauch begünstigten. Umfangreiche Archivmaterialien von Ordensgemeinschaften oder anderer katholischer Organisationen seien noch nicht analysiert worden.
EKS-Präsidentin: Gefahr bei Reformierten geringer
Gefeit vor sexuellen Übergriffen ist auch die reformierte Kirche nicht, wie zuletzt der Fall des ehemaligen Präsidenten der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS) zeigte. Gottfried Locher hatte eine ehemalige Mitarbeiterin mutmasslich sexuell und psychisch missbraucht, hielt eine Untersuchung fest. «Verletzungen von persönlicher, psychischer, religiöser oder körperlicher Integrität können überall vorkommen», sagt EKS-Präsidentin Rita Famos auf Anfrage von ref.ch. Dennoch meint Famos, dass die Gefahr von Missbräuchen in der reformierten Kirche insgesamt geringer einzuschätzen sei als in der katholischen. Das hänge unter anderem damit zusammen, dass die Reformierten kein Zölibat kennen. «Die reformierte Kirche hat bezüglich der Rolle der Sexualität in einer gleichberechtigten, modernen Beziehung oder bezüglich der Akzeptanz queerer Lebensformen Voraussetzungen geschaffen, die einer Doppelmoral weniger Chancen geben», sagt Famos. Zudem führten die reformierten Kirchen kaum Heime und Internate und es gebe nur verzeinzelte Ordensgemeinschaften. «Gerade in diesen Strukturen besteht ein gesteigertes Risiko für Abhängigkeits- und Missbrauchssituationen», sagt Famos.
Mehr als 1000 Übergriffe aufgedeckt