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Margot Kässmann: «Gebete lassen uns von unserer egozentrierten Haltung zurücktreten»

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13.12.2022
Margot Kässmann ist die prominenteste deutsche evangelische Theologin. Am Montag hat sie in Basel an einem Friedensgebet teilgenommen. Ein Gespräch über Zwingli und Calvin, die russisch-orthodoxe Kirche – und die Causa Gottfried Locher.

Wie bewerten Sie die Friedensarbeit von Papst Franziskus in der Ukraine?
Margot Kässmann: Von dem, was ich weiss, hat er versucht, Wladimir Putin zu kontaktieren. Vor allem hat er versucht, auf kirchlicher Ebene Patriarch Kyrill dazu zu bringen, den Angriffskrieg Russlands zu kritisieren. Aber das ist weder ihm noch dem Ökumenischen Rat der Kirchen noch der Weltkonferenz der Religionen für Frieden bisher gelungen. Das ist bitter. Denn ich wünsche mir, dass die russisch-orthodoxe Kirche viel stärker für den Frieden eintritt.

Wo sehen Sie kleine Schritte in Richtung Frieden?
Inzwischen wenden sich schon viele russisch-orthodoxe Priester von Patriarch Kyrill ab. Und auch die russisch-orthodoxe Kirche in der Ukraine kritisiert den Krieg und sagt, dass es ein Brudermord von Kain und Abel ist. Das ist eine wichtige Entwicklung, die wir ökumenisch unterstützen sollten.

 

«Der Nationalismus der russisch-orthodoxen Kirche ist ja seit langem bekannt.»

 

Sind Sie für den Ausschluss der russisch-orthodoxen Kirche aus dem Ökumenischen Rat der Kirchen?
Nein, ich bin dagegen. Die russisch-orthodoxe Kirche darf nicht vom Weltkirchenrat ausgeschlossen werden. In der jetzigen Situation müssen wenigstens die Kirchen miteinander reden können. Wir müssen mit der russisch-orthodoxen Zivilgesellschaft ins Gespräch kommen und diejenigen unterstützen, die den Krieg kritisieren. Das geht nur im unmittelbaren Gespräch. Der Nationalismus der russisch-orthodoxen Kirche ist ja seit langem bekannt.

Gerhard Schröder gilt als Putins letzter Fan im Westen. Wie eng ist Ihr Draht zu Schröder? Sie leben ja beide in Hannover.
Ich habe ihn mal beim Bäcker getroffen – ansonsten habe ich keinen Kontakt zu Gerhard Schröder.

Sie sind Lutheranerin. In der Schweiz prägten Huldrych Zwingli und Johannes Calvin die reformierte Landschaft. Was verbinden Sie mit Zwingli?
Einen Wunsch.

Und der wäre?
Im Jahr 1529 waren Zwingli und Luther zum Religionsgespräch in Marburg. Sie waren sich in fast allem einig. Nur nicht in der Präsenz von Jesus Christus im Abendmahl. Hätten sie sich damals geeinigt, dann hätten wir heute eine evangelische Kirche. Luther und Zwingli hätten beide über ihren Schatten springen sollen.

 

«Was ich an Calvin aber weniger schätze, ist diese Strenge.»

 

Was verbinden Sie mit Calvin?
Mit Calvin verbinde ich, dass die reformierte Kirche sehr früh und sehr stark die Fühler in alle Welt ausgestreckt hat. Was ich an Calvin aber weniger schätze, ist diese Strenge, beispielsweise das Tanzverbot. Das ist für mich als Lutheranerin ein bisschen schwer hinzunehmen, weil ich finde, dass auch die Evangelischen singen und tanzen dürfen.

Sie kennen Gottfried Locher, den ehemaligen Präsidenten der Schweizer Reformierten. Er musste nach MeToo-Vorwürfen zurücktreten. Haben Sie die Causa Locher verfolgt?
Ich habe das aus der Ferne verfolgt.

Hat Sie das überrascht?
Die Kirche ist nicht ausserhalb der Welt, und was in der Welt passiert, passiert auch in der Kirche. Aber ich finde es wichtig, dass es in der Kirche Compliance-Regeln gibt und so etwas nicht vertuscht wird. Machtmissbrauch darf nicht unter den Teppich gekehrt werden. Ich finde es gut, dass in Amerika glasklar kommuniziert wird: Wenn in einer Firma ein Vorgesetzter und mit seiner Mitarbeiterin eine Affäre beginnt, muss der Vorgesetzte gehen – und nicht die Mitarbeiterin. Diese Compliance-Regeln sind in unseren Kirchen noch lange nicht im Bewusstsein angekommen.

 

«Wenn sie wissen, dass ich für sie bete, tut das ihnen gut.»

 

Helfen Gebete gegen Krieg?
Auf jeden Fall. Denn Gebete lassen uns von unserer oft egozentrierten Haltung zurücktreten. Wir denken im Gebet an andere, an Menschen in Not. Zu mir haben oft Menschen gesagt: «Beten Sie für mich.» Und wenn sie wissen, dass ich für sie bete, tut das ihnen gut. Wenn die Menschen in der Ukraine, aber auch die verzweifelten russischen Mütter und Soldaten wissen, dass wir für sie beten, kann das eine Kraftquelle sein. Für mich ist eine betende Welt eine andere, weil sie auch uns, die Betenden, verändert.

Interview: Jacqueline Straub, kath.ch | Foto: Maik Meid, Wikimedia

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