«Kirche ist mehr als der sonntägliche Gottesdienst»
Karin Müller, Sie haben die Kirche Baselland 19 Jahre lang als Kantonalredaktorin begleitet. Hat sich die Kirche in dieser Zeit verändert?
Nicht sehr, die Inhalte sind gleich geblieben. Geändert haben sich die Akteure in den Behörden und in der Pfarrschaft.
Welche Inhalte meinen Sie?
Seit fast 2000 Jahren ist es die Aufgabe der Kirche, das Evangelium zu verkünden. Der Auftrag und der Inhalt stehen fest. Geändert haben sich die Formen. Heute wird weltlicher und weniger moralisch gepredigt. Wenn ich mit Freunden und Bekannten, die nicht in der Kirche sind, einen Gottesdienst besuche, sind sie positiv überrascht, wie aktuell und lebensnah gepredigt wird. Viele haben noch das Vorurteil, dass der Pfarrer von der Kanzel herab vorschreibt, was man darf und was nicht.
Hat die Kirche ein Imageproblem?
Auf jeden Fall. Wenn ich erzähle, dass ich Journalistin bin, finden die Leute das interessant. Füge ich hinzu, dass ich beim Kirchenboten arbeite, runzeln sie die Stirn oder fragen reflexartig: «Gehst du jeden Sonntag in die Kirche?»
Und?
Ich gehe nicht jeden Sonntag in die Kirche. Kirche ist mehr als der sonntägliche Gottesdienst. Ich finde die Auseinandersetzung mit Glaube und Theologie spannend.
«Theologie ist nichts Abgehobenes, sondern gibt Einsichten für das Leben.»
Warum?
Theologie ist nichts Abgehobenes, sondern gibt Einsichten für das Leben. Dafür muss die Diskussion aber offen und lebensnah sein und unterschiedliche Sichtweisen zulassen.
Sollte die Kirche mutiger sein?
Ja, sie sollte mutiger auftreten, aber nicht mit erhobenem Zeigefinger. Sie hat die Wahrheit nicht gepachtet. Die Kirche ist in vielen Bereichen der Gesellschaft und des Lebens relevant und sollte es bleiben. Ich glaube, dass sich heute viele in der Kirche aus einem Minderwertigkeitsgefühl heraus nicht trauen, sich in die aktuelle Diskussion einzumischen.
Müsste die Kirche stärker politisieren?
Ja, die christliche Botschaft ist a priori politisch, indem sie Partei ergreift für die Armen und die Schwachen, die Menschen am Rande der Gesellschaft und für das Leben. Das ist nicht parteipolitisch. Viele verwechseln dies, gerade im politischen Umfeld.
Die Kirche verliert heute Mitglieder. Sollte sie mehr missionieren?
Nein. Die Jüngeren sehen das wahrscheinlich anders. Ich stamme aus einer Generation, die Mission zwiespältig sieht.
Heute ist viel von leeren Kirchenbänken und schwindenden Finanzen die Rede.
Das ist schade. Die Finanzen stehen zu sehr im Vordergrund und bestimmen die Inhalte und die Arbeit in den Gemeinden. Das Totschlagargument, das können wir uns nicht leisten, kommt etwas zu schnell. Zuerst sollte man sich darüber im Klaren sein, in welche Richtung man gehen will, welche Projekte man umsetzen will, und erst dann über die Finanzen diskutieren. Man kann auch kleinere Brötchen backen, die schmecken. Und vergessen wir nicht: Am Anfang des Christentums standen nicht die Gelder und der Etat, sondern der Glaube an die Botschaft, das Kommen des Reiches Gottes in diese Welt.
Sie haben einen inzwischen erwachsenen Sohn. Wie kann die Kirche junge Menschen ansprechen?
Wir sind eigentlich keine religiöse Familie, unser Sohn hat den Religionsunterricht besucht, liess sich aber nicht konfirmieren. Trotzdem hat er das ganze Alte und das ganze Neue Testament gelesen und beschäftigt sich leidenschaftlich mit theologischen Fragen und besucht auch ab und zu einen Gottesdienst.
Dann haben Sie alles richtig gemacht.
Ich weiss es nicht. Aber ich glaube, dass der Religionsunterricht eine wichtige Basis gelegt hat. Deshalb sollten die Kirchen auch weiterhin auf Religionsunterricht an den Schulen bestehen. Nicht um die Kinder und Jugendlichen zu missionieren, sondern weil ihnen der Religionsunterricht hilft, sich mit ethischen und gesellschaftlichen Fragen auseinanderzusetzen und sich im Leben zurecht zu finden.
«Vielleicht ist es an der Zeit, dass die Institution Kirche neue Formen und Wege sucht, um die Menschen zu erreichen.»
Trotzdem sieht man viele Jugendliche nach der Konfirmation nicht mehr in der Kirche.
Das ist normal. Nach der Konfirmation beginnt für die Jugendlichen ein neuer Lebensabschnitt mit neuen Herausforderungen und anderen Sorgen wie Lehre, Studium, Beziehung und erste eigene Wohnung. Da steht die Kirche nicht im Vordergrund.
Mit dieser Ausgabe endet Ihre berufliche Karriere in der Kirche. Haben Sie einen letzten Wunsch?
Jetzt werden Sie pathetisch. Wie gesagt, ich wünsche mir, dass die Kirchen mutiger und gelassener sind und zu ihrer Botschaft stehen und nicht ständig den Ausgleich suchen, nicht permanent Angst haben, dass jemand austritt. Die christliche Botschaft ergreift Partei, Jesus war kompromisslos um Gottes und der Menschen willen. Damit hat er es geschafft, dass ihm die Menschen damals wie heute zuhören. Die Menschen fühlten sich verstanden, weil er ihr Leben geteilt hat und nicht abgehoben war. Die reformierte Kirche wird vor allem aus demografischen Gründen kleiner, aber ihre Botschaft ist deshalb nicht weniger wert. Vielleicht ist es an der Zeit, dass die Institution Kirche neue Formen und Wege sucht, um die Menschen zu erreichen. Und wer weiss, vielleicht kommt auch die Zeit, in der die Kirchen wieder wachsen.
Das Gespräch führte Tilmann Zuber
«Kirche ist mehr als der sonntägliche Gottesdienst»