News aus dem Kanton St. Gallen

Kann süchtig machen

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28.06.2021
Brigitte Vuichard vom Pilgerzentrum St. Jakob begleitet Pilger auf Tagestouren und pilgert selber leidenschaftlich – so weit die Füsse tragen.

Die vielen Kilometer, die Brigitte Vuichard in ihrem Leben schon gepilgert ist, hat sie nicht gezählt: «Es geht nicht um die Distanzen oder um die Zeit, die ich dafür brauche. Mich fasziniert am Pilgern, dass ich eine Strecke durchlaufe.» Sie vergleicht den Pilgerweg mit einem Lebensweg: «Man erlebt auf dem Weg Höhen und Tiefen, schöne und weniger schöne Etappen. Man begegnet sich selber und anderen.»

Die gebürtige Schaffhauserin begleitet für das Zürcher Pilgerzentrum St. Jakob regelmässig Pilgertouren. Eine Tagespilgertour führt zum Beispiel von Konstanz über Rapperswil und Pfäffikon bis nach Einsiedeln. «Als Reiseleiterin kenne ich den Weg, habe ihn abgelaufen und weiss, wo Pausen möglich sind und wo man mittagessen kann.»

Wegsegen und Schweigen
Der Unterschied zu einer Wandergruppe liegt im spirituellen Aspekt: «Ich spreche zum Beispiel einen Wegsegen, erzähle eine Geschichte über den Weg oder lese Gedichte über die Jahreszeiten.» Ganz wichtig sei die Schweigezeit. «Wir gehen auf jeder Tour mindestens eine Stunde schweigend miteinander. Das macht den Kopf frei und öffnet die Sinne für innere und äussere Eindrücke.» Tagespilger sind oft Pensionierte mit guter Kondition: «Auch ältere Menschen pilgern problemlos fünfeinhalb Stunden von Rapperswil bis nach Einsiedeln.» In den regelmässigen Gruppen kennt man sich: «Tagespilgern ist für viele eine gute Möglichkeit, Freundschaften zu pflegen und gleichzeitig etwas für die Gesundheit zu tun.» Die Faszination dabei: Im Osten aufbrechen und im Westen ankommen. «Man geht bei jedem Wetter und durchwandert auch die weniger schönen Wegstrecken.»

Aufs Wesentliche besinnen
Dieses Jahr zieht sich Brigitte Vuichard aus der Pilgerbegleitung zurück. Nicht aber vom Pilgern: «Pilgern kann süchtig machen. Ich warte darauf, dass ich den Rucksack packen und losgehen kann. Dann habe ich nur dabei, was ich tragen kann. Ich besinne mich auf das Wesentliche und werde beim Gehen vollkommen ruhig.»

Vor zwei Jahren ist sie von ihrem Zuhause in Zürich 2000 km auf dem Jakobsweg bis nach Muxía in Spanien gepilgert. Das kleine Fischerdorf mit seiner Wallfahrtskirche an der Felsenküste der Costa da Morte gilt als spiritueller Endpunkt für Pilger, die sich nicht scheuen, nach dem berühmten Zielort «Santiago de Compostela» weitere 90 km unter die Füsse zu nehmen, was vier bis fünf zusätzliche Tagesmärsche bedeutet. «Man kommt an seine Grenzen», berichtet Brigitte Vuichard. «Oft ist man bis zum Umfallen erschöpft, hat Muskelschmerzen oder Blasen an den Füssen. Trotzdem überwindet man sich und geht Tag für Tag weiter.» Manchmal kommt unerwartete Hilfe: «Ich war auf einer langen Wegstrecke unterwegs und hatte lange keine Gelegenheit, etwas zu trinken zu kaufen. Es war unsäglich heiss, und ich sehnte mich verzweifelt nach Wassermelonen. Plötzlich sah ich weit vorne auf einem Hochplateau einen ‹Donativo›. An solchen Ständen bekommt man etwas für einen freien Geldbetrag. Und dieser Donativo hatte Wassermelonen! Er erschien mir wie ein Engel auf dem Weg.»

Begegnung mit sich selbst
Es sei ein «Riesenunterschied», ob man alleine oder in einer Gruppe pilgert. «Wenn ich alleine in Spanien unterwegs bin, begegne ich mir selber, bin aber auch offener für andere.» Das kann zu unvergesslichen Begegnungen führen: «Eine 75jährige Französin liess sich ihren Koffer nachschicken, weil sie ihn nicht mehr tragen konnte. Sie ging langsam, aber stetig. Ihre Ausdauer hat mich sehr beeindruckt.»

Brigitte Vuichard empfiehlt das Langzeitpilgern Menschen, die herausfinden möchten, wohin ihr Lebensweg führt: «Eine solche Auszeit kann gut sein für jemanden, der gerade nicht weiter weiss. Manche sind auf der Suche nach sich selber, nach Gott oder nach Klarheit.»

Doch nicht alle finden beim Pilgern Erleuchtung: «Nicht jeder muss kilometerweit pilgern, um sich zu besinnen. Ich rate den Leuten auch schlicht, in die Natur zu gehen und sich zu bewegen. Manchmal kann auch schon ein Umweg beim Einkaufen Wunder wirken.»

Adriana Di Cesare, kirchenbote-online

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