News aus dem Kanton St. Gallen

Jesus und die Tomatenbüchsen

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16.03.2021
Milo Rau ist einer der renommiertesten Regisseure im deutschsprachigen Raum. In seinem neuesten Film zeigt er Jesus als Aktivisten, der sich für das Schicksal der ausgebeuteten Migranten im Süden Italiens wehrt. Rau über seinen farbigen Jesus und warum die Bibel in jeder Zeit aktuell ist.

Milo Rau, Ihr jüngster Film trägt den Titel «Das Neue Evangelium». Das ist ein ungeheurer Anspruch. Wie sind Sie auf die Idee gekommen?
Vor ein paar Jahren hat die europäische Kulturhauptstadt, das süditalienische Matera, mich angefragt, ob ich für sie ein Projekt machen will. Ich habe gesagt: Ja, einen Jesusfilm. Ich hatte zufällig im Jahr davor mit Maja Morgenstern zusammengearbeitet, die in «The Passion of the Christ», den Mel Gibson in Matera inszeniert hat, die Heilige Maria spielte. Pasolini hat auch in der Stadt einen Bibelfilm gedreht. Ich castete also den Jesus von Pasolini als Johannes den Täufer und die Heilige Maria von Gibson und fuhr nach Matera.

Sie haben es erwähnt: Die süditalienische Stadt ist bekannt als das Jerusalem des Weltkinos, hier haben Pier Paolo Pasolini und Mel Gibson ihre Jesusfilme gedreht.
Ja, zuerst wollte ich auch einen sozialpolitischen, aber eher klassischen Jesus-Film drehen. Aber als ich die Flüchtlingslager entdeckte, die um Matera herum stehen und in denen Tausende von entrechteten Menschen leben, wusste ich, dass der Film nicht wie seine Vorgänger die Worte der Bibel verfilmen, sondern die Botschaft ins heute transportieren muss. Unser Jesus ist ein Aktivist aus Kamerun, seine Apostel sind Katholiken, Muslime, Frauen ... es geht um eine echte «Revolte der Würde».

Sind Sie ein gläubiger Mensch?
Ich glaube, so wie man nicht unpolitisch sein kann, kann man nicht ungläubig sein. Mit Pasolini würde ich sagen: Ich bin kein rational gläubiger Mensch, sondern ein gefühlsmässig Gläubiger, vielleicht auch ein künstlerisch Gläubiger. Das Neue Testament ist ja sehr politisch: dort ist die Würde des Menschen und des Lebens etwas, für das wir kämpfen müssen. Es geht nicht um die Umsetzung von transzendenten Werten, es geht darum, im Hier und Jetzt ein menschenwürdiges Leben zu führen. Der biblische Jesus ist über weite Strecken angenehm ideologiefrei. Er sagt selbst: Was bringen uns die Schriften, wenn wir keine Taten folgen lassen?

Deshalb das Neue Evangelium.
Ja, denn wir brauchen es. Ausserdem ist jede Interpretation der Bibel ein «neues» Evangelium, denke ich. Eine Lesart, die für die jeweilige Zeit und den jeweiligen Ort Sinn macht.

Heute sind Künstler, die sich mit der Bibel beschäftigen, rar geworden.
Wie gesagt: ungläubig sein, das geht nicht. 90 Prozent der Kunst, die im Westen entsteht, beruht auf dem Grundmythos der, sagen wir mal, schwierigen Heldenreise von Jesus und seinen Anhängern. Die Grundidee, dass Solidarität gefährlich ist, dass erst Leiden zu Transzendenz führt, ist mir sehr nahe, auch aus der eigenen Erfahrung heraus. Darum geht es in der Bibel und deshalb ist dieses Buch so faszinierend. Man kommt mit der Bibel nie an ein Ende und fragt sich immer wieder, warum steht diese Episode da? Warum ist Jesus so widersprüchlich? Es gibt viele Bibelstellen, die die Gründer der Kirche wohl besser rausgestrichen hätten, damit die Sache einfacher und verdaulicher wird.

Ist diese Widersprüchlichkeit gut?
Natürlich. In der Bibel sieht man das menschliche Schicksal in seiner ganzen Komplexität. Dieses so berührende Streben nach Gerechtigkeit und Würde – wie auch unser Versagen und die Abgründe, die Einsamkeit, die Irrtümer der Menschen.

Ihr Film ist eine Kritik an der Wirtschaft. Kaum jemand, der im Supermarkt eine Büchse Pellati kauft, stellt sich die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit und wie es den Migranten geht, welche diese Tomaten pflücken.
In Italien leben eine halbe Million rechtloser Immigranten, die ausgebeutet werden, nur damit wir billige Tomaten und Orangen essen können. Dieser Widerspruch wurde mit dem Bezug zur Bibel noch deutlicher und ich fragte mich, für wen würde sich Jesus heute einsetzen: für die, die im Reichtum leben – oder für die Ausgebeuteten? Die Antwort ist klar.

Kann man die biblischen Verhältnisse so einfach übersetzen?
Ach, mit der Übersetzung beginnen überhaupt erst die Schwierigkeiten. Aber ein Theologe hat mir erklärt, die Bibel müsse sich immer realisieren, immer im Jetzt landen, sonst sei sie leer und tot. Das sagt auch Jesus selbst, wenn er erklärt: Ich bin mitten unter euch, wenn sich zwei oder drei in meinem Namen versammeln. Die Bibel ist kein Buch, das man liest und zuklappt. In dem Moment, in dem man sie liest, geschieht etwas. Die Heilsgeschichte kann in jedem Moment stattfinden.

Sie verklären den Supermarkt zu einem Tempel. Ist der Konsum unser heutiger Gott?
Eine Sache ist genauso interessant wie beunruhigend, wenn man das Neue Testament liest: Viele Szenen kann man fast eins zu eins umsetzen, seit zweitausend Jahren leben wir im gleichen System. Man fragt sich, was ist das für eine Gier und Kurzsichtigkeit, die uns daran hindert, ein würdevolles Zusammenleben zu finden. Für mich ist es ein Rätsel der menschlichen Existenz, warum wir in Ungleichheit und Ausbeutung leben, trotz unserer Intelligenz, Liebesfähigkeit und Gutwilligkeit.

Wie kann man aus diesem System ausbrechen?
Das Problem ist: Wie bringen wir das, was wir wissen und eigentlich richtig finden, mit dem zusammen, was wir tun? Wie Jesus sagt: Man kann die Schrift predigen, ohne nach ihr zu leben. Niemand kann sagen, dass er nicht wüsste, woher die Billigprodukte in unseren Läden kommen. Wir alle haben die besten Absichten, die wir auf Facebook kundtun. Der Kapitalismus ist nicht per se ein Ausbeutungssystem, sondern lediglich ein Verteilsystem. Das «System» sind ja wir selbst: Wenn wir morgen nur noch fair produzierte Tomaten kaufen und essen, dann liefert die Wirtschaft nur noch fair produzierte Nahrungsmittel. Schon allein mit unserem Konsumverhalten können wir die Welt verändern.

Inzwischen gibt es eine Trendwende. Viele Läden führen Fairtrade-Produkte. Doch sie sind teurer, so dass sie sich nicht alle leisten können.
Nein, das ist einer der populären Irrtümer. Fair-Trade-Produkte sind nicht teurer, sondern das Geld wird fairer verteilt. Die Tomaten, die Yvan Sagnet – unser Jesus – produziert, kosten den Konsumenten gleich viel wie die Tomaten, die die grossen Konzerne produzieren. Nur dass weniger bei der Mafia und mehr bei den Arbeitern ankommt.

Yvan Sagnet ist der erste schwarze Jesus in der europäischen Filmgeschichte. Hat dies eine besondere Bedeutung?
Es ist, wie einer unserer Apostel in einem Interview gesagt hat, ein wichtiger Schritt zu einem neuen Bild von Jesus. Vor zehn Jahren gab es den ersten schwarzen Präsidenten in den USA, das war eine Riesensache. Beim nächsten farbigen Präsidenten wird das niemandem mehr auffallen.

Die Macht verändert sich.
Ja. Ein Beispiel dazu: Meine beiden Töchter sind so jung, dass sie nur die Bundeskanzlerin Angela Merkel kennen. Vor kurzem diskutierten wir darüber, wer der neue Kanzler werden könnte, und wir kamen auf Friedrich Merz. Meine Töchter erklärten, Merz könne kein Kanzler sein, denn er sei ein Mann. Für sie war klar, nur eine Frau kann an der Spitze von Deutschland stehen. Bei mir, der mit Helmut Kohl und Gerhard Schröder aufwuchs, war es genau umgekehrt. Das zeigt: Mediale Bilder sind extrem wichtig.

Auch ihr Film hat die Realität ein Stück weit verändert. Nach den Dreharbeiten gründete man ein «Haus der Würde», in dem die Migranten und Darsteller Unterstützung erhalten.
Ja. Die Migranten sitzen ja in der Zwickmühle. Ohne Niederlassung erhalten sie keine Arbeitspapiere und ohne Arbeitspapiere erhalten sie keine Niederlassung. Deshalb können sie so wenig an ihrer Situation ändern und werden als Sklaven missbraucht. Wir gründeten mit der katholischen Kirche und anderen das «Haus der Würde», so dass die Migranten eine Niederlassung bekommen – und damit dann auch Dokumente. Wenn so etwas geschieht, spricht man gerne von einem Wunder. Dabei brauchte es nur ein klein wenig Solidarität, ein klein wenig Beharrungsvermögen. Das Projekt wächst. Wir sind bei knapp hundert Bewohnern, Yvan Sagnet will gern bald tausend haben.

Haben Sie einen Wunsch an die Zuschauer Ihres Films?
Ja, kauft fair produzierte Tomaten. Kauft überhaupt fair produzierte und getradete Produkte. Es klingt einfach, und es ist auch einfach. Obwohl es natürlich erst ein Anfang ist.

Interview: Tilmann Zuber, kirchenbote-online

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