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«In der St. Galler Kirche war es zum Davonlaufen»

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22.09.2021
Pfarrerin Rut Ochsner erlebte die Entwicklung der St. Galler Kirche in den vergangenen sechs Jahrzehnten hautnah mit. Als Frau stiess sie auf Widerstand von Professoren und Kirchenfunktionären – und auf viel Unterstützung im Kirchenvolk.

«In der St. Galler Kirche war es zum Davonlaufen», erinnert sich Rut Ochsner. Als sie 1978 vom appenzellischen Schönengrund ins st.-gallische Steinach wechselte, wurde sie von der Pfarrschaft nicht mit offenen Armen empfangen. Im Pfarrkapitel fragte sie der Präsident, was sie denn hier wolle. «Sie ist Pfarrerin», sagte jemand. Er entgegnete trocken: «Gut, dann können Sie die Büechli verteilen und Kaffee holen.» Doch eine andere Pfarrerin stand ihr bei: «Komm, wir gehen aufs Damenklo», rief sie ihr gut hörbar zu, «dort haben wir wenigstens die Führung.»

Vater war ein Patriarch

Rut Ochsner kennt die Geschichte der Frauen in St. Galler Pfarrämtern gut – aus eigener Erfahrung. Ihr Vater war Pfarrer in Rorschach, wo sie als Einzelkind aufwuchs. Er war ein mutiger Mann, den sein Eintreten für Gerechtigkeit zweimal die Stelle gekostet hatte, etwa, weil er sich deutlich gegen die Nazis äusserte. Ihr Vater war aber auch ein Patriarch, der sich entschieden gegen Frauen im Pfarramt aussprach.

 

«Wenn Sie für Teamarbeit sind, sind Sie dann auch für Gruppensex?»

 

Gegen den Willen des Vaters entschied sich Rut Ochsner für das Theologiestudium in Zürich. Widerwillig unterstützte er sie mit einem bescheidenen Betrag. Bis es zum Eklat kam. In einer Proseminararbeit bei Professor Eduard Schweizer wies sie nach, dass der «Apostel Junias» in Röm 16,7 in Wirklichkeit eine Frau war: Apostelin Junia. Diese Einsicht hat sich in der Forschung mittlerweile durchgesetzt. Damals aber war die 68er-Bewegung im Anflug. Schweizer hielt die junge Studentin für eine Revoluzzerin und die Arbeit für eine Frechheit. Er stauchte sie zusammen und informierte ihren Vater. Prompt strich dieser ihr das Geld.

Ochsner war eine engagierte Studentin, wollte an der Uni und in der Kirche Neues ausprobieren. Und sie war Studentenvertreterin in der Zeit der Studentenunruhen. War sie tatsächlich eine Revoluzzerin? «Die 68er-Gruppierungen waren mir zu fanatisch», verneint sie. Auch mit den damaligen Feministinnen habe sie Mühe gehabt. «Ihre Sprache und ihr Umgangston waren mir zu extrem. Das ewige Rumhacken auf den Männern brachte nichts. Ich wollte lieber zusammen mit ihnen Neues bewegen.»

Theaterprojekte in der Kirche

Teamarbeit, den Menschen auf Augenhöhe zu begegnen, ist Ochsner bis heute wichtig. «Ich habe auch später als Pfarrerin mit und von der Gemeinde gelernt, nicht die Gemeinde belehrt», erläutert sie. «Das haben viele Kollegen nicht verstanden.» Sie habe versucht, die Sprache der Menschen zu sprechen, sie einzubinden. Auch die kirchenfernen. Etwa durch Theaterprojekte, die sie in St. Gallen Straubenzell ins Leben rief, wo sie von 1988 bis zu ihrer Pensionierung 2009 tätig war. So konnte sie die Bibel erlebbar machen. Theaterspielen habe auch eine seelsorgerliche Komponente: «Manchen habe ich eine Rolle auf den Leib zugeschrieben.»

 

«Mit den damaligen Feministinnen hatte ich Mühe. Ihre Sprache war mir zu extrem.»

 

Als Ochsner als Pfarrerin in Straubenzell begann, stiessen ihre Ideen nicht immer auf Gegenliebe. Pfarrkollegen hatten Angst um ihr eigenes Gärtchen, manche Behördenmitglieder waren mit Innovationen überfordert. Immer aber hatte Ochsner die Unterstützung der Kirchbürgerinnen und Kirchbürger. Und sie lernte, dem Ego der männlichen Kollegen zu schmeicheln, wenn diese Angst hatten, dass sie ihnen vor der Sonne stand. Etwa bei der ersten Frauensynode von 1995. Ochsner hatte den Grossanlass in den Olma-Hallen mitorganisiert und kam deswegen in die Medien. «Manche Pfarrer konnten das nicht verkraften», erinnert sie sich.

WC-Putzen für das Studium

Als ihr Vater ihr im Studium das Geld strich, verdiente Ochsner den Lebensunterhalt mit Putzen. Sie reinigte am Bellevue die öffentliche Toilette und bei Theologieprofessoren die Wohnung. Professor Leuenberger – der Vater des späteren Bundesrates Moritz – vermittelte ihr eine Stelle als Aushilfslehrerin. Das Leben als Werkstudentin war hart, die Solidarität unter den Theologiestudierenden aber gross. «Hanni Sahlfeld-Singer und ich liehen uns gegenseitig unsere Kleider aus, Strümpfe, und manchmal auch Geld.»

 

«Heute erlebe ich die Kirche als frauenbejahend»

 

Nach dem Studium, als das Vikariat anstand, kam es zum nächsten Eklat. Zusammen mit anderen angehenden Pfarrerinnen und Pfarrer wünschte sich Ochsner ein Vikariat im Team. Doch darauf war die Kirche nicht vorbereitet. Als sie ihren Wunsch äusserten, mussten die Studierenden beim Zürcher Kirchenrat antraben. «Wenn Sie für Teamarbeit sind», fragte der Kirchenratsschreiber, und wurde rot bis über die Ohren, «sind Sie dann auch für Gruppensex?» Ochsner war fassungslos: «Offenbar konnten sie sich keinen anderen Grund für Teamarbeit vorstellen.»

Mit High-Heels auf die Kanzel

Ochsner hatte trotzdem Glück mit dem Vikariat. Sie kam nach Meilen ZH zu Pfarrer Max Eglin. Er hatte einen offenen Geist und stärkte ihr den Rücken. Für Vikarinnen galten damals strenge Kleidervorschriften: schwarz, kein Ausschnitt. «Aber sie haben vergessen, die Schuhe zu reglementieren», schmunzelt Ochsner. Das nutzte sie aus: Sie zog hohe High-Heels an und marschierte damit – «tok, tok, tok» – bis auf die Kanzel. Pfarrer Eglin hatte Freude an der Provokation. «Er sass zuvorderst in der Kirchenbank und grinste.»

Wie erlebt Ochsner die St. Galler Kirche heute? Wo steht sie punkto Gleichberechtigung? «Heute erlebe ich die Kirche als sehr frauenbejahend», antwortet Ochsner, «zumindest in den Gemeinden, die ich kenne.» Sie habe den Eindruck, seit der Jahrtausendwende schaue man nicht mehr auf das Geschlecht, sondern darauf, was jemand könne. Frauenquoten befürworte sie nicht. «Die waren früher schon nötig, wie auch die ‹giftigen› Feministinnen – sonst wäre nichts gegangen. Ich wollte einfach keine sein.» Verbittert blickt Ochsner nicht zurück auf ihre Tätigkeit in der St. Galler Kirche: «Ich habe mit viel Freude gearbeitet – immer zusammen mit engagierten Menschen, deren Fähigkeiten und Beziehungen ich für neue Wege in der Gemeindearbeit nutzen durfte.»

Text: Stefan Degen | Foto: Katharina Meier – Kirchenbote SG, Oktober 2021

 

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