In den Magen statt in den Müll
Donnerstag, 14.30 Uhr. Vor der Offenen Kirche in St. Gallen bildet sich eine Schlange. Es ist kalt, aber sonnig. Endlich geht die Türe auf. Beim Eingang steht ein Tisch. Dort begrüsst Heidi die Gäste. Die freiwillige Mitarbeiterin stempelt die Bezugskarten und kontrolliert, dass alle einen Franken in das Kässeli werfen – den Unkostenbeitrag für eine Tasche voller Lebensmittel. «Einmal gross» oder «dreimal klein» ruft Heidi in den Raum. Im Hintergrund stellen Frauen Taschen zusammen. Je nach Haushaltsgrösse erhält man eine grössere oder eine kleinere Tasche.
Fast drei Millionen Tonnen Lebensmittel werden in der Schweiz pro Jahr weggeworfen. Würde man sie in Lastwagen laden, so gäbe es eine Kolonne von St. Gallen bis Madrid. Der grösste Verlust fällt in privaten Haushalten an. Nur acht Prozent gehen im Handel verloren. Doch auch das ist allerhand. Der Verein Tischlein deck dich sammelt intakte Lebensmittel, die sich nicht mehr verkaufen lassen, bei Händlern wie Migros und Coop ein, sortiert sie und liefert sie dann an die Abgabestellen aus – allein im Kanton St. Gallen sind es zehn.
Ohne Freiwillige geht nichts
Lebensmittel retten ist harte Arbeit. Zwei Stunden, bevor die ersten Bezügerinnen eintreffen, liefert der Lastwagen von Tischlein deck dich die Ware an. Sechs Freiwillige, allesamt Frauen von 50 an aufwärts, räumen die Kisten aus, sortieren das Essen und füllen es – schön portioniert – in Tragtaschen ab.
Wer bei Tischlein deck dich Lebensmittel bezieht, braucht eine Bezugskarte. Man erhält sie bei einer sozialen Institution, der Evangelischen Frauenhilfe oder der Familienhilfe etwa. Dort werden die finanziellen Verhältnisse abgeklärt. «Man muss die Steuerabrechnung mitbringen», erläutert Annina Policante, die die Abgabestelle in der Offenen Kirche seit 17 Jahren leitet (hier geht es zum Porträt). Dort werde dann nachgerechnet, ob man die Bedingungen erfülle. Bei der Abgabestelle gilt dann: ohne Karte kein Essen. «Das gibt manchmal böses Blut», gesteht Policante, «aber wir müssen strikt sein.» Es sei hilfreich, dass sie in der Offenen Kirche selbst keine Karten ausstellten, dass Kartenabgabe und Essensabgabe getrennt seien. «So geraten wir weniger unter Druck.»
Kochtipp inklusive
Von bösem Blut ist heute nichts zu spüren. Im Gegenteil: Die Stimmung ist herzlich und entspannt. Familien stossen ihre Kinderwagen in die Kirche, man schwatzt miteinander. «Nöd so viel schnädere do vorne», foppt ein Mann vom Eingang her. Es wirkt eher freudig als mürrisch und gereizt. Man spürt: Die Dankbarkeit ist gross. Eine Bezügerin etwa meldete sich vor einigen Monaten bei Policante: Sie habe in ihren Ferien Zeit und würde gerne etwas zurückgeben – ob sie mithelfen könne? Seither hilft sie in ihren Ferien jeweils beim Ausladen des Lastwagens und Abpacken der Tragtaschen.
Nachdem die Gäste bei Heidi die Karte gestempelt haben, gehen sie weiter zu Abgabeleiterin Policante. Viele Bezügerinnen und Bezüger kennt sie persönlich. «Wie geht’s?», fragt sie etwa, oder: «Haben Sie etwas gehört von den Kindern in der Ukraine?» Nach dem Schwatz bietet sie ihnen spezifische Lebensmittel an: Das Milchpulver ist für Familien mit Babys, die Kaffeekapseln sind nur sinnvoll, wenn man die passende Maschine besitzt, und Leberwurst ist nicht jedermanns Sache. «In heissem Wasser sieden», gibt Policante einen Kochtipp mit auf den Weg.
Ein kleiner Basar vor der Kirche
Draussen vor der Kirche herrscht ein fröhliches Treiben. Während die einen anstehen, begutachten die anderen ihre Tasche: Was können sie brauchen, was nicht? Für Überschüssiges steht eine Kiste bereit, wo sich andere bedienen können. So wird die Kiste voll, lehrt sich, wird wieder voll und lehrt sich wieder. Ein kleiner Basar. «Wer braucht Soja?», ruft der Mann, dem es beim Eingang nicht schnell genug gehen konnte. «Chinese Food», erläutert jemand bei einer Packung voller weisser Dinge, die niemand kennt.
Um 15.30 Uhr ist die Ausgabe beendet. Ein Brot, eine Leberwurst, 20 Kaffeekapseln und eine Papaya sind übriggeblieben – angeliefert wurde eine halbe Lastwagenladung. Rund 70 Armutsbetroffene konnten für ihre Familien Lebensmittel nach Hause bringen, die sonst im Müll gelandet wären. Woche für Woche.
In den Magen statt in den Müll