News aus dem Kanton St. Gallen

«Ich bin x-mal im Notfall gelandet»

von Stefan Degen, Kirchenbote St. Gallen
min
01.04.2023
Menschen, die unter Ängsten und Panikattacken leiden, sind im Alltag bisweilen massiv eingeschränkt. Es sind aber auch sehr mutige Menschen, wie ein Besuch in der Selbsthilfegruppe in Rapperswil zeigt.

«Das Schlimmste ist», erzählt Sandra*, «wenn ich mitten in der Nacht in Panik aufwache. Das Herz rast, ich kriege keine Luft, kann nicht richtig schlucken, und es ist mir ‹trümlig›. Dazu kommen Schmerzen, die ausstrahlen – wie bei einem Herzinfarkt.»

Mit 25 hatte die heute 54-Jährige ihre erste Panikattacke – ohne zu wissen, worum es sich handelte. «Ich bin x-mal im Notfall gelandet mit Beschwerden wie bei einem Herzinfarkt oder einem Hirnschlag.» Dort wurde sie wieder und wieder untersucht. Aber man fand nichts. «Sie sind kerngesund», hiess es immer. «Dabei ging es mir hundsmiserabel! Ich dachte, ich sterbe. Dass ich eine Panikattacke hatte, hat mir niemand gesagt.»

Explosionsartige Panikattacken
Das erfuhr Sandra erst viel später von ihrem Hausarzt. Heute besucht sie die Selbsthilfegruppe Angst/Panik, die sich zweiwöchentlich im Evangelisch-reformierten Zentrum in Rapperswil trifft. Wie die Teilnehmenden, so sind auch ihre Ängste unterschiedlich. David* hat Mühe, vor grösseren Menschengruppen zu sprechen. Jens* hat Panikattacken, die sich explosionsartig entladen. Ursula* wagt sich kaum in Restaurants, Züge und Flugzeuge. «Alles, wo ich nicht einfach rauskann, meide ich», fasst sie zusammen. «Die schlimmste Vorstellung ist, dass ein Zug stecken bleibt, die Türen zu sind und es auch noch heiss ist.»

Nur wer es erlebt hat, versteht es
Die Selbsthilfegruppe gibt den Betroffenen die Möglichkeit, sich auszutauschen. «Was man während einer Panikattacke wirklich durchmacht, versteht niemand ausser die, die es selbst erlebt haben», sagt Sandra. Denn Panikattacken gingen nicht einfach nur zehn Minuten. «Das kann Stunden dauern», sagt Ursula. Eine Zeit purer Angst: Angst, zu sterben, Angst, dass es nicht mehr aufhört, Angst vor der nächsten Panikattacke, Angst vor der Angst. Da sei es unglaublich wertvoll, von anderen Betroffenen zu hören, wie sie damit umgingen. «Man ist nicht mehr allein», fasst Ursula zusammen, «und kommt sich nicht so blöd vor. Man sieht: Die anderen haben das auch, und es sind ja coole Typen.»

Wie ein Junkie, der Nachschub sucht
Stigmatisiert fühlen sich die Teilnehmer der Selbsthilfegruppe nicht. Ihr Umfeld unterstützt sie soweit wie möglich. Einen Peinlichkeitsfaktor habe eine Angstattacke aber schon, findet Jens. «Wenn ein erwachsener Mann in der Öffentlichkeit plötzlich losheult, einen Schweissausbruch kriegt und ins Hyperventilieren kommt, dann denken die Leute vielleicht schon: Was ist das für ein Chlaus!» Der himmeltraurigste Augenblick sei, wenn er eine Tablette zur Beruhigung aus dem Schächteli nehmen wolle, sie aber vor lauter Zittern und Hyperventilieren nicht rausbringe. «Und ist sie dann draussen, dann fällt sie mir noch zu Boden!» Wer ihn aus der Ferne beobachte, denke doch, er sei ein Junkie, der Nachschub brauche. In solchen Momenten sei es unendlich hilfreich, das Schächteli mit der Tablette einer vertrauten Person in die Hand zu drücken und zu sagen: «Da, mach mal.»

Mit beiden Beinen im Leben
In der Selbsthilfegruppe seien sie keine akuten Fälle mehr, findet Jens. «Wir sind hier nicht im Lazarett, sondern in der Reha beim Muskelaufbau.» Vor vier Jahren hatte er ein Burnout, kam in die Klinik, war auf medizinische und psychologische Hilfe angewiesen. «Irgendwann konnte ich mich aus dieser Welt lösen und selbst für mich schauen», erinnert er sich. Im Internet stiess er auf die Selbsthilfegruppe. «Also nahm ich das Telefon in die Hand.» Überwindung brauchte das wenig. «Ich hatte schon so viel an mir ‹rumgedoktert› und war es von der Klinik her gewohnt, über Gefühle und Ängste zu sprechen.»

David, Jens, Sandra und Ursula machen den Eindruck von Menschen, die mit beiden Beinen im Leben stehen. Ausser ihren Erzählungen deutet im Gespräch nichts darauf hin, dass sie unter Ängsten leiden, die ihren Alltag bisweilen massiv einschränken. Im Gegenteil: Offen und humorvoll erzählen sie von sich und geben Persönliches preis. Mut – das wird an diesem Abend deutlich – bedeutet nicht, keine Angst zu haben. Mutig ist, wer sich seiner Angst stellt.

 

*alle Namen geändert

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