News aus dem Kanton St. Gallen

«Hoffentlich hat uns niemand im Garten gesehen»

von Stefan Degen
min
21.03.2024
Vor zweieinhalb Jahren hat Edith Weder ihren Mann verloren, mit dem sie 53 Jahre fröhlich durchs Leben ging. Im Interview erzählt sie, wie sein Tod sie in ein Loch riss und wie sie wieder Freude am Leben fand.

Frau Weder, wie ging es Ihnen, als Ihr Mann starb?

Edith Weder: Ernst war ein unglaublich toleranter, lustiger und liebevoller Mensch. Als er starb, bin ich in ein ganz, ganz tiefes Loch gefallen. Viele Bekannte wollten mich besuchen, aber ich habe sie nicht reingelassen.

Weshalb nicht?

Ich habe eine verspiegelte Haustür – ich sehe raus, aber von aussen sieht man nicht rein. Wenn jemand vor der Türe stand, dachte ich: Fahrt ab, ich kann euch nicht ertragen. All die guten Ratschläge – du solltest, du müsstest, es ist ihm doch gut gegangen – halfen überhaupt nicht. Ein Ratschlag ist manchmal ein Schlag. Ich liess mir nicht helfen und bin im Selbstmitleid versunken.

Was half Ihnen schliesslich, aus dem Loch rauszukommen?

Meine Tochter. Sie hat mir gesagt: «Mama, ich kann dir nicht mehr helfen. Du bist zu weit unten im Loch. Ich habe eine Leiter hingestellt, und du kommst nicht rauf.» Was die für einen Seich erzählt, dachte ich zuerst. Je länger ich aber darüber nachdachte, desto mehr kam ich zum Schluss, dass sie recht hatte.

Ich bin ja eigentlich ein «Hollenposs», wie wir im Rheintal sagen: Ich bin gesellig, bin gerne unter den Leuten, um zu schwatzen, zu lachen, zu singen und zu tanzen.

Zwei Tage später rief ich sie an: «Sonja, ich komme raus aus dem Loch.» Eine Stunde später war sie bei mir. «Mama, ich komme, um das Loch zuzumachen», sagte sie. Zusammen schaufelten wir im Garten symbolisch das Loch zu, stampften die Erde fest und säten Blumen darauf – damit ich sicher nicht mehr reinfalle, meinte meine Tochter. Hoffentlich hat uns niemand im Garten gesehen. Die meinten sonst, wir hätten eine Schraube locker.

Danach war alles wieder gut?

Nein. Ich brauchte schon noch Zeit, um wieder unter die Menschen gehen zu können. Ich bin ja eigentlich ein «Hollenposs», wie wir im Rheintal sagen: Ich bin gesellig, bin gerne unter den Leuten, um zu schwatzen, zu lachen, zu singen und zu tanzen.

Was haben Sie unternommen, um Ihre Trauer zu verarbeiten?

Ich gehe in ein Trauercafé nach Sax, auch heute noch. Das bringt mir wahnsinnig viel. Nanette Rüegg, unsere Pfarrerin, hat mir das empfohlen. Dort treffen sich Menschen, die einen Angehörigen verloren haben. Wir tauschen uns aus – aber nicht nur über den Tod und die Trauer, sondern auch darüber, was uns heute beschäftigt, was uns Freude macht im Leben.

Was bedeutet Ihnen der Glaube?

Viel. Der Glaube war für Ernst und mich wichtig. Wir gingen aber nur selten in die Kirche. Unser Bauernbetrieb liess das nicht zu. Bis zu seinem Tod haben wir immer am Abend zusammen gebetet.

Und heute?

Heute gehe ich wieder öfter in die Kirche, sicher einmal im Monat. Ich fühle mich dort Ernst nahe. Manchmal höre ich bei der Predigt gar nicht richtig zu, sondern denke an ihn. Das hat in der Kirche auch Platz.

Haben Sie Angst vor dem Tod?

Nein. Früher dachte ich: Nichts kann mich umbringen, ich gehe pfeifengerade durchs Leben – kein Gedanke an den Tod. Heute hat sich das geändert. Ich habe den Tod akzeptiert. Ich werde meinem Mann nachfolgen, wohin er gegangen ist.

Ihr Mann ist in Ihren Armen gestorben. Macht es das einfacher oder schwerer?

Beides. Ernst war bereit, zu gehen, er ist friedlich gestorben. Einerseits ist es schön, dass ich bei ihm war. Andererseits denke ich auch manchmal, ich hätte es nachher einfacher gehabt, hätte ich diesen schweren Moment nicht miterlebt.

Könnten Sie sich vorstellen, einen neuen Partner zu haben?

Auf keinen Fall! Das wäre ein armer «Cheib». Ich würde ihn stets mit Ernst vergleichen. Einen Ernst gibt es nicht ein zweites Mal.

Und Ihr Bedürfnis nach Geselligkeit?

Das kann ich auch so ausleben. Ich habe eine liebe Familie, zwei Kinder, vier Enkel und zwei Urenkel – der dritte ist noch im «Backofen». Manchmal gehe ich nach Frümsen in die «Bäsebeiz» zum Plaudern. Dort treffe ich alte Bekannte. Ohne Partner kann ich schalten und walten, wie ich will.

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