Guggenmusik bringt Chaos in Kirche
Am Anfang war das Tohuwabohu*. So lesen wir es ganz vorne in der Bibel. Gemeint ist das Chaos. Dann schuf Gott Ordnung. Und da Ordnung das halbe Leben ist, war es gewiss richtig so. Nur: Wo blieb die andere Hälfte? Löste sie sich sphärisch auf?
Nein! Die andere Hälfte schafft permanent erneut das Chaos. Die menschliche Chaostheorie besagt: In dir und in mir und in allen anderen lebt der Hang zum Chaos. Das Unordentliche und Unberechenbare ist verlockend. Daraus entstehen jene Sehnsüchte und Triebe, von denen die Bibel ebenfalls in ihren ersten Kapiteln erzählt. Ordnung allein ist halt langweilig. Probe aufs Exempel: Vor welchen Endgerichtfresken stehst du in einer alten Kirche länger: vor den himmlischen Szenen mit ihren systematisch aufgereihten Heiligen oder vor den Bildern der Hölle, wo dämonische Gestalten die verlorenen Seelen furchtbar quälen?
Allerorten lärmt die Popularmusik
Der Hang zum Chaos ist der authentische Stoff der Weltliteratur, der Filmindustrie und der Mythen vieler Religionen. Auch für die christliche Heilsgeschichte notabene, wenngleich Jesus Christus durch Kreuz und Auferstehung jedes Schema überwindet. Unser Jahreskalender zollt diesem Hang Tribut, indem er mit der Fasnacht eine Tür zur vorchristlichen Zeit öffnet. Im Sarganserland beispielsweise treiben sich dann Scharen fürchterlicher Geisterwesen herum. Und allerorten lärmt jene Popularmusik, die es doch nie in die Charts schafft: Die Guggenmusik ist die auditive Referenz an das Chaos.
«Holladuli» statt «Halleluja»
Aus dem reformierten Zürich kommend überraschte mich die Frage, ob auch ich, gemäss Sarganser Tradition, den Fasnachtsgottesdienst zusammen mit einer Guggenmusik gestalten würde. Darf ich am heiligen Sonntagmorgen dem Chaos Zugang dorthin gewähren, wo die Ordnung bewahrt sein will? Oder soll ich gerade an diesem Sonntag Raum öffnen für jenen Aspekt des Lebens, der von klerikaler Seite her verpönt ist?
Ich entschied mich dafür und einigte mich mit der Familienguggenmusik «Fägnäschter» darauf, wann und wie das Tra-tra-trä-trä erschallen soll. Auch ein Lied wurde vorbereitet, beherrschen doch etliche «Fägnäschter» ihr Instrument ganz passabel. Einzelne Könner braucht es übrigens in jeder Gugge. Chaos pur ist nämlich langweilig. Erwähnt seien zudem die Fake-Guggen. Da spielen alle ausgezeichnet – sie tun nur so, als hätten sie keine Ahnung. Chaos ab Noten? Ah ja, die Lieder: «Det ene am Bärgli» in christlicher Transkription wurde zum Hit. Das «Holladuli» war ein prima Halleluja-Ersatz. Geeignet ist auch «Alli mini Äntli» mit christlicher Textvariante, sofern die Guggen das «Quak, Quak, Quak» ausgiebig spielen dürfen.
Stampfen, lachen, klatschen
Wie jedes Jahr fand der ökumenische Gottesdienst im Bergwerk Sargans statt. Die Gugge marschierte fulminant ein, mit Kind und Kegel, Pauke und Posaune, im Piratenlook à la Jack Sparrow. Die Reaktionen waren enthusiastisch – ähnlich wie jeweils beim Orgelspiel am Sonntagmorgen … Es wurde gestampft und geklatscht, gelacht und getratscht. Die Menschen waren fasziniert, das Chaos wurde zelebriert und der Klerikalismus demontiert. Nur bei der Predigt gab’s dann nichts zum Spassen. Man nahm dies jedoch sehr gelassen.
Es tat einfach wohl, sich nicht um die Konventionen zu kümmern. Wobei einmal pro Jahr genügt. Bei Wiederholungen würde bald der Ruf nach der Orgel laut. Das Chaos ist nur als Ausnahme spannend. Allerdings sind Ausnahmen empfehlenswert. Sogar und erst recht in der Kirche.
*Hebräisch für «wüst und öde»
Guggenmusik bringt Chaos in Kirche