News aus dem Kanton St. Gallen

Gratis-Rioja aus dem Hahn

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26.08.2020
Aus dem einst schmerzvollen Busse-Tun ist ein cooles «Ich-bin-dann-mal-weg» geworden.

Das Wandern ist des Müllers Lust. Und das Pilgern ist des Wandrers Frust. Weil Wandern Spass machen darf und Pilgern Mühe bereiten soll. So jedenfalls sah man das bis vor Kurzem. Pilgern bedeutete Bussetun, freiwillig oder gezwungenermassen.

Ich kehre um wenn es mir stinkt
Wenn es mir beim Wandern stinkt, dann kehre ich um. Wenn es mir beim Pilgern stinkt, dann muss ich weitermachen. Oder: Beim Wandern wähle ich möglichst attraktive Wege. Beim Pilgern wähle ich möglichst kurze Wege. Wobei der moderne Pilgerboom dem gar nicht mehr gerecht wird. Auf dem Jakobsweg von Tafers nach Fribourg jedenfalls marschiert niemand der Strasse nach, obgleich dies kürzer wäre. Moderne Pilgerschaften sind weniger Bussübungen als Formen der Selbstbelohnung: Man darf für einige Zeit aus dem harten Alltag aussteigen. Dass dies der Seele gut tut, steht ausser Zweifel. Das erlebe ich auch, wenn ich auf der Via Francigena (von England nach Rom) entspannt die Bilderbuch-Toscana geniesse. Mein Tipp: Torraccia di Chiusi.

Es ist anspruchsvoll, den eigenen Gedanken und Gefühlen nicht auszuweichen.

Salbe statt Spiritualität

Trotzdem ist auch heute Pilgern nicht nur seelische Wohltat. Als ich jedenfalls einst auf dem Weg von Le Puy-en-Velay südwärts nur für kurze Zeit meine Schuhe zu hart gebunden hatte, die geschwollenen Füsse und Knöchel grauenhaft weh taten, ja, da musste die Lust auf Spiritualität der Lust auf eine schmerzstillende Salbe weichen. Diese fand ich in Conques. Und was ich gerne zugebe: Als ich dank heilender Salbe das Orgelspiel in der romanischen Klosterkirche genoss, da wurde es schon luftig um meine Seele.

Waschküchen und Schwiegersöhne
Eine Erfahrung für sich bilden die Gemeindegruppen, mit denen ich pilgernd jeweils einige Tage unterwegs war. Stets gab es jene Minderheit, die ihr Inneres suchte. Sehr berechtigt! Diese Leute baten mich, das permanente Schwatzen der andern zu unterbinden. Weil es dabei um Waschküchen im Mehrfamilienhaus ging und um Schwiegersöhne, die nicht gerne zu Besuch kommen. Ich schaffte es, das Anliegen durchzusetzen – etwa zehn Minuten lang.

Wehe, wenn dies jener Person passiert, die eben noch den individuellen Seelentripp suchte!

Regelmässig gibt es in solchen Gruppen übrigens Leute mit ungeeignetem Schuhwerk. Sohlen bleiben auf der Strecke liegen und Schuhbändel reissen. Die Gruppe kann Stunden verlieren. Wehe, wenn dies jener Person passiert, die eben noch den individuellen Seelentrip suchte! Auch beim Pilgern ist Nächstenliebe nicht immer das am nächsten Liegende.

70 Liter Wein pro Tag
Eine Art alternativer Spiritualität erleben die Pilgernden in Navarra südlich der Pyrenäen. Beim früheren Kloster Irache gibt es Gratis-Rioja aus dem Hahn. Wenn man nicht mit zu vielen andern teilen muss (pro Tag gibt es 70 Liter), darf man auch ein Glas über den Durst trinken. Anstelle der Seele wird der Kopf luftig – und die Beine werden schwer.

Nicht jeder Boom ist a priori infrage zu stellen
Damit ist aus dem uralten, in allen Religionen beheimateten, mit Schmerzen und gar Todesfurcht verbundenen Weg der Busse ein cooles «Ich-bin-dann-mal-weg» geworden. Das ist in Ordnung. Nicht jeder Boom ist a priori infrage zu stellen. Es bleibt anspruchsvoll, den eigenen Gefühlen und Gedanken für einige Zeit nicht auszuweichen. Unannehmlichkeiten helfen, dass es mir nicht allzu wohl wird. Und so kann es auch heute vorkommen, dass mir unterwegs der Heilige Geist Wichtiges mitteilt. Ob dies nachhaltig ist, wenn mich einige Zeit später der Alltag wieder im Griff hat? Vermutlich entscheidet sich an dieser Frage, ob zwischen Pilgern und Wandern wirklich ein Unterschied besteht.

 

Text: Rolf Kühni, Pfarrer, Sargans | Foto: Wikimedia  – Kirchenbote SG, September 2020

 

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