«Gott kommt zum schlafenden Menschen und gibt ihm eine Botschaft»
Ich werde verfolgt. Ich renne davon. Doch meine Beine werden immer langsamer, stossen auf Widerstand, scheinen festzukleben. Dabei will ich nur eins: rennen, rennen, rennen. Die Verfolger kommen immer näher. Ich will um Hilfe schreien, öffne den Mund. Kein Laut kommt raus. Die Stimme ist blockiert. Schweissgebadet wache ich auf.
Vielen Menschen kommt dieser Traum bekannt vor. Es ist eines der am häufigsten erwähnten Traummotive überhaupt (siehe Kasten). Wer im Internet nach möglichen Deutungen sucht, findet eine Fülle von zwielichtigen Portalen, die für jede erdenkliche Spielart eine Deutung bereithalten: Werde ich von einem Wolf verfolgt? Dann fürchte ich mich davor, hintergangen zu werden. Ist der Verfolger ein Dinosaurier? Dann habe ich Angst vor Autoritätspersonen. Stellt mir aber jemand vom anderen Geschlecht nach, so ist es ein Hinweis auf sexuelle Ängste.
Geträumt, getan, gesiegt
Die zwielichtigen Internetportale stehen in einer jahrtausendealten Tradition. Artemidor von Daldis etwa verfasste im 2. Jahrhundert eine breite Abhandlung über Träume, listete häufige Motive auf und lieferte die Deutung von 95 Musterträumen gleich mit.
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In REM-Phasen sind Träume detaillierter, emotionaler und bizarrer.
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«Nach antiker Vorstellung kommt eine Gottheit zum schlafenden Menschen und gibt ihm eine Botschaft», erklärt Jörg Lanckau, Theologieprofessor an der Evangelischen Hochschule in Nürnberg. Allerdings seien nicht alle Träume als göttliche Botschaften verstanden worden, sondern nur ausgewählte, präzisiert Lanckau. «Diese Träume waren dann wichtig für die Zukunft.» Über Kaiser Konstantin den Grossen wird berichtet, ein Engel habe ihn im Traum angewiesen, mit einem Christussymbol auf der Fahne in die Schlacht zu ziehen. Geträumt, getan – prompt siegte er in der Schlacht bei der Milvischen Brücke.
Fast alle Menschen träumen
Aus Sicht der modernen Traumforschung handeln Träume weniger von einer möglichen Zukunft als von der unmittelbaren Vergangenheit. Zwei Drittel der Personen, von denen wir träumen, sind uns nämlich am Vortag begegnet. Ebenso die Hälfte der Gegenstände. Dies ergab eine Studie der Universität Zürich. Die allermeisten Träume handeln von Banalem: vom Einkaufen, von der Schule, von der Arbeit, von der Familie, vom Alltag. Sie sind so banal, dass wir nicht aufwachen oder sie schnell wieder vergessen.
Fast alle Menschen träumen – Ausnahmen gibt es bloss bei schweren Hirnschäden. Das kann man einfach überprüfen, indem man Papier und Stift auf dem Nachttisch bereitlegt. Bei jedem Erwachen stellt man sich sofort die Frage, ob man geträumt hat. Falls ja, notiert man ein Stichwort zum Traum. Nach einigen Nächten beginnt sich das Blatt zu füllen.
Bizarre Träume in der REM-Phase
Im Schlaf sind die Muskeln gelähmt. Mit einer Ausnahme: 1953 entdeckte Eugene Aserinsky von der Universität Chicago, dass es Phasen gibt, in denen die Augen hin- und herzucken. Er nannte das Phänomen Rapid-Eye-Move-
ment, kurz REM. In REM-Phasen, die etwa einen Viertel der Schlafdauer ausmachen, sind Träume tendenziell länger, detaillierter, emotionaler und bizarrer als sonst. Das liegt wohl daran, dass Bereiche des Gehirns in der REM-Phase wenig aktiv sind, die wichtig sind für logisches und rationales Denken. Träume kommen aber in allen Schlafphasen vor. Meist sind es bloss die REM-Träume, die uns lange in Erinnerung bleiben.
Umstritten in der Wissenschaft …
Warum aber träumen wir? Darüber scheiden sich die Geister. 1899 erschien Sigmund Freuds berühmtes Buch «Die Traumdeutung». Der Begründer der Psychoanalyse beschreibt darin Träume als Ausdrucksform unterdrückter (meist sexueller) Wünsche des Unterbewusstseins. Der finnische Neurowissenschafter Antti Revonsuo hingegen sieht im Träumen eine Art evolutionäres Training. Und Allan Hobson, Psychiatrieprofessor in Harvard, hält Träume für spontane Hirnaktivitäten ohne tieferen Sinn. Die Frage, weshalb wir träumen, ist bis heute umstritten.
… und in der Bibel
Umstritten ist der Umgang mit Träumen auch in der Bibel. Einerseits berichtet sie von göttlichen Offenbarungen: Wie Jakob träumt, dass sich der Himmel öffnet, wie er eine Leiter sieht, auf der Engel auf- und absteigen, wie ihm Gott im Traum begegnet.
Andererseits wirft der Prophet Jeremia anderen Propheten vor, durch ihre Träume im Namen Gottes Lügen zu verbreiten, indem sie ständig sagten: «Ich habe geträumt, ich habe geträumt!» Der Alttestamentler Jörg Lanckau erläutert: «Die ursprüngliche Form der prophetischen Offenbarung war wohl der bildhafte Traum, möglicherweise auch als Tagtraum.» Dieses Bild sei zu einem Spruch verdichtet und dann an der Wirklichkeit überprüft worden. «Jeremia überspringt hier einen Schritt, indem er behauptet, das Wort direkt von Gott zu hören.»
Traum vom Gottesreich
Die Vorstellung, dass Träume eine göttliche Offenbarung enthalten, spiele in der heutigen Theologie kaum noch eine Rolle, sagt Lanckau. Im übertragenen Sinn inspirieren biblische Träume aber bis heute. So hielt der Pfarrer und Bürgerrechtler Martin Luther King seine berühmte Washingtoner Rede unter dem Titel «I have a dream». Er träumte, indem er ein Bild des Propheten Jesaja zitierte: «Ich habe einen Traum, dass eines Tages jedes des Tal sich hebt, und jeder Hügel sich senkt. (…) Und die Herrlichkeit des Herrn soll offenbart werden und alle werden es sehen.» Mehrfach wiederholte Luther King die Worte: «I have a dream today.» Dahinter steckt ein weihnächtlicher Traum: Lasst euch nicht auf später vertrösten. Das Gottesreich ist bereits angebrochen. Es ist sichtbar, mitten unter uns.
Text: Stefan Degen | Bild: Adam Elsheimer / Wikimedia – Kirchenbote SG, Dezember 2020
«Gott kommt zum schlafenden Menschen und gibt ihm eine Botschaft»