News aus dem Kanton St. Gallen

«Gott allein weiss, was das bedeutet»

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01.01.2016
In den letzten Kriegstagen des Zweiten ­Weltkriegs ermordeten die Nationalsozialisten den deutschen Theologen Dietrich Bonhoeffer. Er fasziniert, weil er sich entschlossen gegen das NS-Regime auflehnte. Aus ­religiöser Überzeugung nahm er auch einen Tyrannenmord in Kauf.

Am 9. April vor 70 Jahren wurde Dietrich Bonhoeffer von den Nationalsozialisten umgebracht. Wäre er auch eine solche Lichtgestalt, wenn er überlebt hätte?

Christiane Tietz: Wohl kaum. Die Ermordung hatte zur Folge, dass Bonhoeffer von seinem Ende her interpretiert wurde. Es wirkte wie eine Bestätigung für die Richtigkeit seines Lebensweges. Bonhoeffer wurde zunächst nicht durch seine Theologie bekannt, sondern weil seine Person und sein Lebensweg in der Nachkriegszeit faszinierten. 

Bekannt ist er vor allem wegen zwei Dingen: dem Gedicht «Von guten Mächten» und dem politischen Widerstand in der NS-Zeit.
Das sind zwei Perspektiven auf Bonhoeffer: Die erste knüpft an bewegende Gedichte und andere prägnante Aussagen an, die sich weltweit erbaulich gut vermarkten lassen. Die zweite Deutung ist die als Vorbild, wie sich Christen politisch zu engagieren haben. Daneben gibt es viele andere Bonhoeffer-Interpretationen, von der konservativen bis zur liberalen Theologie.

In manchen Kreisen ist Bonhoeffer eine Art moderner Heiliger. Gibt es Legenden­bildungen?

Der Lagerarzt von Flossenbürg, wo Bonhoeffer ermordet wurde, stilisierte später Bonhoeffers Tod. Er sei mutig zum Galgen gestiegen und in grossem Gottvertrauen gestorben. Das war eine Erfindung des Arztes.

Eines Ihrer Bonhoeffer-Bücher heisst: «Theologe im Widerstand». Was hat Bonhoeffer genau getan?
Man kann zwei Phasen in seinem Widerstand gegen das NS-Regime unterscheiden. In der ersten Zeit in den 1930er-Jahren geht es um den Kirchenkampf und damit um die Frage, inwiefern sich die Kirche von den Nazis gleichschalten lässt. Entzündet hat sich der Widerstand Bonhoeffers am sogenannten «Arierparagrafen». Pfarrer, die jüdische Wurzeln hatten, wurden aus dem Kirchendienst entlassen.

Bekannter ist seine Mitgliedschaft in der Gruppe um Admiral Canaris, die das Attentat auf Hitler geplant hatte. Es scheiterte am 20. Juli 1944.
Bonhoeffer war ab 1940 Mitarbeiter in der Wehrmacht im Amt Ausland/Abwehr. Sein Schwager Hans von Dohnanyi hatte ihm diese Stelle vermittelt. In dieser Funktion hat Bonhoeffer in der Widerstandsgruppe mitgearbeitet, bis er im ­April 1943 schon vor dem Attentat verhaftet wurde. Bonhoeffer hatte nicht im Sinn, selber ­eine Bombe in die Hand zu nehmen, aber er war sozusagen im Grossraum der Vorbereitungen zum Attentat tätig. Dass er in der Wehrmacht ­arbeitete, irritierte viele Personen, kurzzeitig auch Karl Barth. Bonhoeffer musste diesen dann erst über seine V-Mann-Tätigkeit aufklären.


Weiss man etwas über die Motivation ­Bonhoeffers?

Hier gibt es natürlich keine direkten Dokumente. Klar ist, dass ihm bewusst war, in Todesgefahr kommen zu können. Vor seinem Wehrmacht-Engagement war er in den USA, beim Entschluss zur Rückkehr schrieb er: «Gott allein weiss, was das für mich bedeutet.» Klar ist auch, dass er von der Ermordung der Juden in den Lagern wusste.

Was waren die Aufgaben Bonhoeffers in der Widerstandsgruppe?
Er hatte seelsorgerliche Aufgaben, machte Pläne für ein Deutschland nach einem erfolgreichen Attentat auf Hitler und warb im Ausland, beispielsweise in England, für die Ziele der Widerstandsgruppe. Man wollte erreichen, dass Deutschland nach einem Attentat nicht dem
Erdboden gleichgemacht würde.

Mit dem Attentat nahm Bonhoeffer auch Gewalt in Kauf. Wie legitimierte er das als Theologe?

Gar nicht. Aber er reflektiert diese Frage und sagt, dass es Verhältnisse wie die NS-Diktatur gibt, in denen wir Menschen so oder so schuldig werden. Ob der Mensch den Widerstand wählt oder nicht, beides ist schuldbehaftet. Die eine Haltung durch die Unterlassung von Widerstand, die andere beispielsweise durch Gewalt.

Das fünfte Gebot «Du sollst nicht töten» gilt für den Tyrannenmord nicht?
Doch, für Bonhoeffer gilt es wohl ohne Ausnahme. Aber es gibt Situationen, in denen sich der Christ verpflichtet fühlt, diesem Gebot zuwiderzuhandeln. Dann nämlich, wenn er einen kon­kreten Ruf Gottes hört. Weil der Christ von der Vergebung lebt, hat er den Mut, schuldig zu werden.

Ist Bonhoeffer für Sie ein Märtyrer?
Ich bin vorsichtig mit dieser Begrifflichkeit. Bonhoeffer und seine Biografie sind vielschichtig. Er ist mit seinem Engagement zweifellos ein Vorbild, das uns heute Lebenden kritisch befragt. Daneben hat er konservative Züge, etwa im Staatsverständnis und der Geschlechterhierarchie, die sehr zeitbedingt sind. 

 

 

 

Interview: Daniel Klingenberg | Fotos: zVg  – Kirchenbote SG, April 2015

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