Es reicht mit der Toleranz!
Gerumort hat es schon lange in mir. Aber explizit angefangen darüber nachzudenken habe ich erst, als der russische Oppositionsführer Alexander Nawalny ermordet wurde. Das klingt jetzt etwas pathetisch – tatsächlich war es das Video seiner Frau, Julia Nawalnaja, in dem sie ankündigte, den Kampf ihres Mannes weiterzuführen.
Und ich war beeindruckt. Menschen, die tun, was sie für richtig halten, und dafür viel riskieren. Für Meinungsfreiheit, für Demokratie, für Menschenwürde. Für einmal keine Grautöne, sondern Schwarz oder Weiss. Dafür oder dagegen. Und wenn dagegen, dann richtig. Mit Haut und Haar. Und dem eigenen Leben.
Wir leben in einer Zeit, in der eigentlich eher Zehenspitzen als der Holzhammer gefragt wären. Es sind genügend Polterer und Populisten unterwegs – und ja, auch genügend Polterinnen und Populistinnen, die es sich sehr einfach machen mit dem Schwarz und Weiss.
Die Guten hier, die Bösen da, schuld sind die da oder jene. Und eigentlich bin ich sehr dafür, dass wir differenzieren und verstehen. Dass wir nicht unsere persönliche Meinung als Wahrheit in die Welt hinausposaunen und auch nicht die Meinung des Youtubers hier, der Influencerin da, und schon gar nicht derjenigen, die lauthals behaupten, sie dürften ihre Meinung gar nicht kundtun. Menschen sind in ihren Geschichten zu verstehen, Ereignisse aus ihren Wurzeln und Theorien aus ihren Kontexten.
Ich fand immer schon den dänischen Philosophen Sören Kierkegaard überzeugend, der im Jahre 1847 ein Büchlein schrieb zur Frage, «Darf ein Mensch sich für die Wahrheit töten lassen?». Er kam zum Schluss, dass kein einzelner Mensch meinen darf, im Besitz der Wahrheit zu sein. Und wenn er Andere daran schuldig werden lässt, ihn für die Wahrheit zu töten, so geschieht es eben gerade nicht für die Wahrheit, sondern dieser Märtyrer denkt nur an sich selber.
Er glaubt sich überlegen und ist gerade darin lieblos den anderen gegenüber. Und genau damit setzt er sich ins Unrecht – gerade wenn es um eine moralische Wahrheit, um universal gültige Werte gehen soll.
Also keine Absolutheitsansprüche, keine radikalen Positionsbezüge, sondern Dialog, Dialog und nochmals Dialog. Mit vernünftigen Argumenten, mit Verständnis für Kontexte, mit Achtsamkeit und auf Augenhöhe mit dem Andersdenkenden. Für das in meinen Augen Gute werben, nicht das in meinen Augen Schlechte verbieten. Weil es auch ganz anders sein könnte.
Aber eben, da kommen die Nawalnys. Und mit ihnen andere mutige Menschen in Russland und anderswo, die keine Angst haben davor, radikal zu sein. Nicht gewalttätig, aber radikal in ihrem moralischen Anspruch: Das ist richtig, das ist falsch!
Und dann fällt mir auch noch das Buch von Omri Böhm in die Hände, «Radikaler Universalismus», in dem er universale Werte und absolute Wahrheit jenseits kultureller Identitäten, ja sogar jenseits der Autorität Gottes, verteidigt. Er argumentiert für einen abstrakten Begriff des Menschen unter Ausschluss «sämtlicher – anthropologischen, historischen, soziologischen, psychologischen, biologischen – Fakten». Und behauptet, dass ein kontextualisierter, identitätstheoretisch qualifizierter, postmodern relativierter Begriff von Menschheit die Menschenwürde gefährde.
Gibt es also Gründe, Werte zu verteidigen, bevor sie den Tod der tausend Qualifizierungen (mein, dein, westlich, christlich, humanistisch, weiss, farbig, cis, LGBTQI+, …) sterben?
Wovon sind wir so sehr überzeugt, leidenschaftlich, mit Argumenten und Gefühlen, mit Herz und Hirn, dass wir dessen universale Gültigkeit behaupten? Dürfen wir das? Müssen wir das vielleicht? Mutig, einseitig, radikal?
Es muss ja nicht gleich das Leben sein, das wir einsetzen, aber es kann durchaus einmal geboten sein, sich klipp und klar für etwas einzusetzen und unmissverständlich Position zu beziehen. Wo würden Sie das tun?
Christina Aus der Au
Christina Aus der Au ist Theologin und Kirchenratspräsidentin der Evangelischen Landeskirche Thurgau. Sie gehört dem Vorstand des Präsidiums des Deutschen Evangelischen Kirchentags an und war Präsidentin der 36. Auflage in Berlin und Wittenberg im Jahr 2017.
Es reicht mit der Toleranz!