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«Es ist nicht verboten, mit 60 eine neue Beziehung zu suchen»

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27.12.2022
Über ihr Beziehungsleben äussern sich Bischöfe selten. Margot Kässmann tut es trotzdem. Die ehemalige Bischöfin und EKD-Ratsvorsitzende über Liebe im Alter und darüber, warum Waffen keinen Frieden schaffen.

In ihrem neuesten Buch macht Deutschlands bekannteste Theologin Mut zur Liebe. Der Hintergrund: Nach 40 Jahren hat die ehemalige Bischöfin ihre Jugendliebe Andreas Helm getroffen. «Hallo, ich bin Andreas», sprach er sie an einer Veranstaltung an. Nach diesem Gruss tauschen sie erste E-Mails aus, später treffen sie sich im Restaurant. Schliesslich erwächst eine Partnerschaft, über die sie berichten. Entstanden ist ein Buch über geteilte Freude und gemeinsames Erleben und was Glück jenseits der 60-Jahre-Grenze ausmacht. Es ist auch ein Dokument über die Generation und Lebenswelt der Babyboomer. Wie war das doch mit dem ersten eng umschlungenen Tanz im Discokeller oder mit der Landung auf dem Mond?

 

Frau Kässmann, mit Ihrem Lebenspartner haben Sie das Buch «Mit mutigem Schritt zurück zum Glück geschrieben». Warum dieses Buch?
Aus zwei Gründen: Freunde und Bekannte forderten uns auf, unsere schöne Geschichte zu erzählen. Und wir wollten uns vor der Öffentlichkeit und Presse nicht verstecken, sondern selber darüber schreiben. Während der Corona-Pandemie fanden wir die Zeit dafür.

Herr Helm, wie war es, als Sie plötzlich in der Öffentlichkeit standen?
Das entwickelte sich allmählich. Margot hatte viele Termine, zu denen ich sie begleitete. So musste ich mich daran gewöhnen, nicht gerade im Rampenlicht, aber doch ein Stück weit in der Öffentlichkeit zu stehen.
Kässmann: Heute ist die Situation entspannter, wir müssen nicht jedem erklären, wer dieser Mann an meiner Seite ist.

Die Geschichte, wie Sie nach Jahrzehnten zusammengefunden haben, ist sehr romantisch.
Helm: Ja, das sagen viele.

Was ist anders, wenn man sich mit 60 Jahren verliebt und eine neue Partnerschaft eingeht?
Kässmann: Man hat nicht mehr diese Schmetterlinge im Bauch, verfügt über Lebenserfahrung und denkt klarer.
Helm: Vieles ist ähnlich, aber man ist gereifter. Margot und ich haben Ehen hinter uns, die 26 Jahre gedauert haben. Wir haben beide vier Kinder. Als wir uns begegnet sind, war die alte Vertrautheit aus den Jugendtagen wieder da. Das dauerte nicht lange.

Wie gehen Sie mit dem Rucksack an Erfahrungen um, den Sie mitbringen?
Kässmann: Ich finde es wichtig, dass wir Ähnliches erlebt haben. Die lange Ehe, die vier Kinder und die Enkelkinder. Das macht es leichter, als wenn der eine beispielsweise kinderlos ist. Die Kinder spielen bei uns eine grosse Rolle. Ich bin froh, dass wir ungefähr gleich alt sind und Ähnliches erlebt haben, wie die Mondlandung oder den Fall der Berliner Mauer. Darüber können wir uns austauschen.

 

«Es ist ein Kraftakt, sich auf einen anderen Menschen einzulassen»
Margot Kässmann

 

Wird man im Alter toleranter?
Helm: Ja. Man hat mehr Verständnis für die Probleme des anderen, da einem diese bekannt sind.
Kässmann: Wenn man jung ist, will man den anderen nach dem eigenen Bild formen. Ist man älter, will man den Partner nicht mehr verändern. Wir lieben uns, so wie wir sind, ansonsten funktioniert es nicht.

Mit Ihrem Buch ermutigen Sie dazu, auch im höheren Alter eine Partnerschaft einzugehen.
Kässmann: Wir kennen viele Alleinstehende in unserem Alter, die sich nicht mehr trauen, sich auf eine Beziehung einzulassen.
Helm: Wir möchten ihnen Mut machen, es zu wagen und hinauszugehen. Du bist nicht vom alten Eisen. Es ist nicht verboten, mit 60 Jahren eine neue Beziehung zu suchen.

Was braucht es, um so einen Schritt zu wagen?
Helm: Es braucht viel Vertrauen in das Gelingen.
Kässmann: Ja, es ist ein Kraftakt, sich auf einen anderen Menschen einzulassen und dem anderen vom eigenen Leben zu erzählen, mit all den Höhen und Tiefen.
Helm: Es lohnt sich. Als wir an Corona erkrankten, merkten wir, wie schön es ist, wenn einem in dieser Situation jemand zur Seite steht. Jemand, der einem beim Wadenwickel hilft. (lacht)

Was haben Ihre Kinder zur neuen Beziehung gesagt?
Kässmann: Meine Kinder haben sich gefreut, dass die Mutter wieder einen Partner hat. Vielleicht entlastet sie dies auch etwas.
Helm: Bei mir war das auch so.

 

«Es ist wichtig, dass man Gemeinsamkeiten hat, die man pflegen kann. Und auch ähnliche politische Anschauungen»
Andreas Helm

 

Heute hat die Gesellschaft keine Probleme mit Partnerschaften im Alter. Das war vor dreissig Jahren noch anders.
Kässmann: Ja, die Bilder verändern sich, vor allem für die Frauen. Als Frau warst du früher ab 45 Jahren uninteressant. Und beim Fernsehen fragte man, ob eine Frau über 50 noch die Tagesschau sprechen könne. Das hat sich geändert, entsprechend den Bildern über das Altern und der höheren Lebenserwartung. Kürzlich publizierte die «Zeit» ein ganzes Dossier über Sex im Alter. Das konnte man sich früher nicht vorstellen.

Haben ältere Frauen heute mehr Selbstvertrauen?
Kässmann: Ja. Früher zogen Frauen ab einem gewissen Alter graue Röcke an.
Helm: Frauen ab 60 galten als alt, als Omas, selbst wenn sie keine Grossmütter waren. Ab einem gewissen Alter waren Frauen geschlechtslose Wesen. Da haben die heutigen Frauen ein ganz anderes Selbstbewusstsein.

Fühlt man sich durch die neue Beziehung jünger?
Helm: Wir fühlen uns auch sonst nicht alt.
Kässmann: Wir stehen in einer tollen Lebensphase. Das Berufsleben und die Ehe mit vier Kindern liegen hinter uns, wir haben Zeit für uns als Paar.
Helm: Zum Glück interessieren wir uns beide für Sport. Margot liebt Jogging und Schwimmen. Es ist wichtig, dass man Gemeinsamkeiten hat, die man pflegen kann. Und auch ähnliche politische Anschauungen.
Kässmann: und ähnliche kirchliche Wurzeln, auch wenn Andreas katholisch und ich evangelisch bin.

 

«Im Moment wird man als Pazifistin massiv diffamiert, vor allem in Deutschland»
Margot Kässmann

 

Stichwort politische Ansichten: Frau Kässmann, Sie haben öffentlich erklärt, dass Sie in den Waffenlieferungen an die Ukraine keine Lösung sehen. Dafür wurden Sie heftig kritisiert.
Kässmann: Ich bin froh, dass Andreas und ich da einer Meinung sind. Im Moment wird man als Pazifistin massiv diffamiert, vor allem in Deutschland. Man bezeichnet uns als Lumpenpazifisten oder fünfte Kolonne von Wladimir Putin.
Helm: Obschon ich in der Bundeswehr gedient habe, habe ich nach zwei Jahren den Kriegsdienst verweigert. Die Karte der Diplomatie wird nicht oder zu selten ausgespielt. Diese Option wird viel zu wenig ins Spiel gebracht. Jeder Krieg wurde früher oder später über Verhandlungen und Vereinbarungen beendet, es geht nichts anders.

Wie gehen Sie mit diesen Anfeindungen um?
Kässmann: Das ist nicht schön. Der CDU-Abgeordnete Roderich Kiesewetter bezeichnete mich in einer Diskussionsrunde im ZDF als wohlstandsverwöhnt. Es sei bequem vom Sofa aus zuzuschauen, wie andere umgebracht werden. Er sei genauso wohlstandsverwöhnt, antwortete ich, denn auch er sitze auf dem Sofa und fahre nicht im Panzer an die Front. Es gibt aber auch viele, die mir schreiben, sie seien dankbar, dass ich meine Stimme erhebe, und mich ermutigen, dies weiterhin zu tun.
Helm: Erich Maria Remarque schrieb dazu: «Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg, bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hingehen müssen.» Zum Glück gibt es die Stimme der Friedensbewegung und Pazifisten. Sie sind nicht naiv, im Gegenteil, wer glaubt, mit Waffengewalt Frieden zu schaffen, der ist doch naiv.

Verstehen Sie die Menschen, die nach mehr Waffen rufen?
Helm: Natürlich. Ich verstehe auch die Ukrainerinnen und Ukrainer, die sich verteidigen wollen. Aber ich habe nie daran geglaubt, dass mehr Waffen und mehr Rüstung Frieden schafft. Frieden schafft der Widerstand der Zivilbevölkerung. Diese kritischen Kräfte müssen wir unterstützen und stärken, ebenso die Flüchtlinge, die zu uns kommen. Eigentlich müsste sich Russland verändern.
Kässmann: Deshalb ist es falsch, wenn wir jetzt Partnerschaften mit russischen Städten und Universitäten kündigen und Künstler und Dirigenten nicht mehr nach Europa einladen. Besser wäre es, mit ihnen in Kontakt zu bleiben und sie mit den Fakten zu konfrontieren, damit sie sich nicht von Putin weiterhin blenden lassen.

 

«Der christliche Glaube war und ist für mich eine Ermutigung»
Margot Kässmann

 

Bei der Stärkung der Zivilgesellschaft hat man in den letzten Jahrzehnten viel verpasst?
Kässmann: Ja. Gorbatschow hatte die zukunftsfähige Vorstellung von einem Europa, das in kulturellen Regionen lebt, so wie heute im Dreiland. Die Süddeutschen, Basler und Elsässer leben in einem grossen, grenzübergreifenden Kulturraum, da spielen die Nationalitäten doch keine grosse Rolle mehr. Das Gleiche gibt es auch in anderen Ländern. Wir müssen weg vom fatalen Nationalismus, der Europa und vor allem Deutschland in der Vergangenheit geprägt hat.
Helm: Ja, vergessen wir nicht, vor hundert Jahren hiess es in Deutschland noch «jeder Stoss ein Franzos, jeder Schuss ein Russ».

Frau Kässmann, woher nehmen Sie die Kraft, sich immer wieder einzumischen?
Kässmann: Der christliche Glaube war und ist für mich eine Ermutigung. Ein fröhliches Herz und ein gesundes Gottvertrauen, dann wird es schon gehen. Und dann geben mir meine Familie und die Erzählungen aus meiner Familie Kraft.

Wie meinen Sie das?
Kässmann: Meine Eltern und Grosseltern haben den Krieg erlebt. Sie haben uns gezeigt, dass es nach all dem Schlimmen auch ein gutes Leben danach gibt. Oder wie der Philosoph Kierkegaard sagt: Das Leben wird nur rückwärts verstanden und muss vorwärts gelebt werden.
Helm: Ich habe in meinem Leben so viel Positives erlebt und durch die Gesellschaft erhalten, so dass ich etwas zurückgeben und mich sinnvoll einbringen möchte. Ich mache Kindertheater und Musik und engagiere mich für Flüchtlinge.

Interview: Tilmann Zuber, kirchenbote-online

Buchtipp: Margot Kässmann und Andreas Helm, «Mit mutigem Schritt zurück ins Glück. Weil uns das Leben immer wieder überrascht», 192 Seiten, Droemer bene!, 2021, CHF 29.90

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