Einer wie alle
Eigentlich beruht die Weihnachtsgeschichte rund um die Geburt Jesu Christi ja auf zwei Geschichten: auf dem Matthäusevangelium, in dem es um Magier geht, die dem Messias mit Gold, Weihrauch und Myrrhe huldigen, und auf dem Lukasevangelium, in dem Jesus bereits bei seiner Geburt von Armen und Ausgegrenzten – den Hirten – willkommen geheissen wird. Diese zweite Version ist bekannter – vielleicht auch, weil in ihr das Bild von Jesus als Messias der Armen angelegt ist, als einem, der sein Leben lang verfolgt werden wird, der sich gegen Obrigkeiten auflehnt, widerständig ist und barmherzig. Jedenfalls gibt es eine lange Tradition, welche die Nähe von Jesus zu den sogenannten Randständigen betont.
Mehr Macht, mehr Geld, mehr Prestige
Nun ist es aber so eine Sache mit dem Rand. Ich muss gestehen, dass ich diesen Ausdruck nicht sonderlich mag. Wer am Rand der Gesellschaft lebt – Obdachlose zum Beispiel, Süchtige oder Sexarbeiterinnen –, das bestimmen nämlich seit jeher diejenigen, die sich «in der Mitte» bewegen und also gegenüber den anderen schon deshalb im Vorteil sind, weil sie mehr Macht haben, mehr Geld oder Prestige.
Trotzdem wäre es sonderbar, zu bestreiten, dass es sie gibt: diejenigen, die am Abgrund stehen, die Abgehängten und Elenden. Es gibt sie schon deshalb, weil wir anderen sie brauchen. Eine Gesellschaft will nämlich wissen, wo oben ist und wo unten. Diese Verortung klappt am zuverlässigsten, wenn man sich Vorurteilen bedient. Der Witz von Vorurteilen besteht nämlich darin, dass wir uns mit deren Hilfe gegenüber den anderen nicht bloss abgrenzen, sondern sie auch ausgrenzen können.
Das Bild von «Randständigen» ist eines, das auf vielen Vorurteilen beruht. Hat man sie lange genug im Kopf, sieht man im Gegenüber nicht mehr einen Menschen, der in seinem Fühlen, Denken, Tun oder Aussehen genauso vielfältig, kantig und widersprüchlich ist wie alle anderen, sondern nur noch den «Penner», die «Prostituierte» oder den «Junkie». Ich wähle diese Ausdrücke bewusst, denn wann immer wir sie brauchen, schrumpft das Gegenüber auf eine Rolle, die es für uns zu spielen hat – nämlich die eines Stellvertreters für eine soziale Gruppe, zu der wir partout nicht gehören wollen.
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So ist das: Die in der Mitte brauchen die am Rand, um sich sicher zu fühlen, sich selbst zu bestätigen.
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Gemeinsamkeiten statt Unterschiede
Zugegeben, es ist nicht leicht, Vorurteilen etwas entgegenzuhalten. Wir alle tragen sie mit uns, und haben sie sich einmal eingenistet, wird man sie nur noch schwer los. Was helfen mag, ist eine ordentliche Portion Empathie. Vorurteile sind nämlich immer auf das hinaus, was uns von anderen trennt. Dabei haben wir so vieles gemeinsam, und Mit-gefühl, dieses Sich-im-andern-Wiedererkennen, stellt genau darauf ab: auf Gemeinsamkeiten statt auf Unterschiede. Eine dieser Gemeinsamkeiten besteht schlicht darin, dass wir – als Menschen – alle verwundbar sind, dass wir abstürzen können und es ein unverschämtes Glück ist, wenn wir davonkommen.
Was das alles mit der Weihnachtsgeschichte zu tun hat, werden Sie sich vielleicht fragen. Für mich sehr viel. Vorurteile ablegen – oder sie wenigstens hinterfragen – heisst nämlich nichts anderes als: im Gegenüber den Menschen sehen. Die Weihnachtsgeschichte handelt für mich genau davon: von einem, der sich mitten unter die Menschen begibt, und zwar egal ob Sohn Gottes, Prophet oder blosse Fiktion, als Mensch und also als einer wie wir alle – und nicht bloss als einer, der denjenigen nahesteht, die angeblich am Rand der Gesellschaft leben.
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Klaus Petrus
Klaus Petrus ist Fotojournalist und Reporter, er berichtet aus Krisengebieten und ist Autor von «Am Rand» (Christoph Merian Verlag 2023), einem Buch mit Porträts über Menschen am Rand unserer Gesellschaft.
Einer wie alle