Ein Dorf kämpft seit 43 Jahren für den Frieden
Mit Israel und den Palästinensern verbinden viele jahrzehntelange Feindschaft und Krieg. Vor kurzem eskalierte der Konflikt zwischen Israel und der Hamas erneut. Die Hamas feuerte Raketen auf israelische Städte, unter anderem Tel Aviv. Israel bombardierte Gaza.
In der «Oase des Friedens» – auf Hebräisch Neve Shalom, auf Arabisch Wahat al-Salam – gehen die Menschen einen anderen Weg. Im Dorf leben Juden und Palästinenser seit 43 Jahren zusammen und praktizieren erfolgreich den Frieden. Doch obwohl der Zusammenhalt der Bewohner nicht zum ersten Mal geprüft wurde, zeigte der jüngste Krieg eine neue Seite, die sich auf das Friedensdorf auswirkte. «Dieser Krieg war intensiver und furchterregender, weil zwischen den Juden und israelischen Palästinensern in den gemischten Städten Israels starke Unruhen ausbrachen», erklärt Evi Guggenheim. Die Schweizer Jüdin zog Ende der 70er-Jahre mit ihrem palästinensischen Ehemann nach Neve Shalom.
Gerade habe das Dorf die Herausforderungen der Corona-Pandemie bewältigt, erzählt Evi Guggenheim. Der Kampf gegen diesen gemeinsamen «Feind» habe zu einem starken Zusammengehörigkeitsgefühl geführt. Kaum war die Krise vorbei, hätten die Politiker auf beiden Seiten einen neuen Feind gebraucht, um ihre Ziele verfolgen zu können. «Sowohl die Hamas wie Ministerpräsident Netanjahu und die israelische Rechte benutzen einander, um ihre Macht zu legitimieren», ist Evi Guggenheim überzeugt. Die jahrelange Diskriminierung der palästinensischen Bevölkerung Israels in den gemischten Städten habe dazu geführt, dass die Konflikte dort nun ebenfalls eskalierten. Sie betont jedoch, dass die Mehrheit der jüdischen und palästinensischen Israeli in Frieden miteinander leben möchte.
«Wir sind überall verbunden»
Die Gewalt hat die Bewohner von Neve Shalom erschüttert. «Wir hörten das Dröhnen der Helikopter, wenn Gaza bombardiert wurde, und wir sahen die Raketen aus Gaza über Tel Aviv wie Feuerwerk explodieren», erzählt Evi Guggenheim. Sie stand in ständigem Kontakt mit ihrer Tochter in Tel Aviv. «Zuallererst fürchteten wir um unsere eigene und die Sicherheit unserer Liebsten, aber als wir erfuhren, was in Gaza läuft, änderte sich das. In Neve Shalom kann man sich nicht nur mit sich selber beschäftigen, wir sind überall verbunden.»
Die Spannungen zwischen den Bewohnerinnen und Bewohnern zeigten sich im Dorfchat. Daraufhin traf man sich zum Gespräch. Rund hundert Leute kamen, darunter viele aus der zweiten Generation, die im Dorf aufgewachsen sind. Das habe sie besonders gefreut, sagt Evi Guggenheim. Die jungen Leute schilderten ihre Ängste und hörten einander zu, es war ein emotionaler Abend. Der Angriff eines mit ihm zusammen gross gewordenen Palästinensers in der WhatsApp-Gruppe des Dorfes etwa verletzte einen 19-jährigen israelischen Soldaten. Eine junge muslimische Frau wiederum, die ebenfalls aus dem Dorf stammt, fühlte sich, nachdem sie mit ihrer Familie in die Altstadt von Jerusalem gezogen war, von den dort patrouillierenden Soldaten bedroht.
Frieden trotz verschiedener Meinungen
Die jüdischen und palästinensischen Dorfbewohner erlebten die Konflikte unterschiedlich, erklärt Evi Guggenheim. Der Abend habe aber gezeigt, dass das friedliche Zusammenleben im Dorf funktioniert, auch wenn die Meinungen zum Teil stark auseinandergehen.
«Wenn man zusammenleben will wie wir in Neve Shalom, braucht es hundertprozentige Gleichberechtigung», sagt Evi Guggenheim. Im Dorf teilen sich die Bewohner die Macht und die Aufgaben, alle sollen die gleichen Chancen haben, sich zu entwickeln. Alle können wählen und gewählt werden. «Das gegenseitige Vertrauen ist heute so gross, dass wir auch in Krisenzeiten miteinander reden können.»
Die Ausbildung trägt Früchte
Neve Shalom hat durch seine Friedensschule eine lange Tradition in gewaltfreier Konfliktbewältigung. Die Ausbildungsstätte, die Evi Guggenheim vor mehr als 40 Jahren mitbegründete, entwickelte eine eigene Methode und übernimmt in der Friedenspädagogik und Konfliktarbeit mittlerweile eine führende Rolle. Sie wirkte über ihre Region hinaus im Kosovo, in Mazedonien, in Südafrika und in Nordirland und trägt auch in Israel zarte Früchte. Noch nie vorher habe sie so viele Friedens-Kundgebungen gesehen, sagt Evi Guggenheim. Besonders optimistisch stimmt sie, dass sie unter den Organisatoren dieser Demonstrationen etliche Absolventen der Friedensschule entdeckte. «Das gibt die Befriedigung, etwas Bedeutungsvolles erreicht zu haben. Unser friedenspädagogisches Engagement bekommt immer mehr Aufmerksamkeit, wenn der Schneeballeffekt auch weniger stark ist, als wir es uns wünschen. Doch Verzweiflung ist ein Luxus, den wir uns nicht leisten dürfen.»
Politisch setzt Evi Guggenheim ihre Hoffnungen auf das neue Koalitionsbündnis, das Ministerpräsident Netanjahu entmachtet hat. «Es würde funktionieren, wenn man auf der Makroebene das umsetzen würde, was wir in Neve Shalom praktizieren, denn wir wissen, wie man mit Konflikten umgeht.»
Karin Müller, kirchenbote-online
Schweizer Freundinnen und Freunde von Neve Shalom/Wahat al-Salam
Ein Dorf kämpft seit 43 Jahren für den Frieden