News aus dem Kanton St. Gallen

Ein Brausen ertönt, Flammen fahren herab, Menschen geraten ausser sich

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22.04.2021
Das Pfingstwunder hat seit 2000 Jahren viele kirchliche Erneuerungsbewegungen inspiriert – leider nicht immer zum Guten. Die Erzählung in der Apostelgeschichte ruft jedoch nicht zur Spaltung auf, sondern zur Verständigung.

Kanada, 1994: In Toronto beginnen bei einem Treffen der Vineyard-Gemeinde viele Mitglieder zu zittern. Sie fallen zu Boden. Sie stossen seltsame Laute aus oder lachen lauthals. Später erzählen sie, dieses Erlebnis habe sie mit einer nie empfundenen Glaubensfreude erfüllt. Sie verstehen es als Wirken des Heiligen Geistes. Der sogenannte Toronto-Segen gelangt bald auch in die Schweiz.

Emmental, 1970: Ein 17-jähriger St. Galler wird am Ostertreffen einer Pfingstgemeinde in den Gebetskeller eingeladen. Biedere Schweizerinnen und Schweizer knien, strecken die Arme in die Höhe und rufen in unverständlichen Sprachmustern hemmungslos zum Himmel. Das widerfährt überraschend auch dem Jugendlichen. Es heisst, er sei nun vom Heiligen Geist erfüllt.

Geist oder Un-Geist?

Für viele Christen wirkt solches zwiespältig. Und wer in der 2000-jährigen Kirchengeschichte forscht, stösst auf Geisterfahrungen, die wirklich nicht harmlos sind. Der Heilige Geist diente als Erklärungsmuster für vieles, was sich nicht erklären lässt. Oft wurden christliche Gemeinschaften durch eine emotionale Glaubensbegeisterung tatsächlich neu belebt. Häufig genug aber endeten solche Vorkommnisse in Rechthaberei und Gewalt. Bekannt ist etwa der Name Savonarola, jedenfalls bei Florenz-Reisenden. Die Unterscheidung von Geist und Un-Geist war stets mit grossen Schwierigkeiten verbunden. Wobei: Eigentlich würde eine sorgfältige Lektüre des ersten christlichen Pfingstfestes in der Apostelgeschichte genügen.

 

Paulus meint lapidar: «Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern des Friedens.»

 

Jerusalem, ca. 30 n. Chr.: Anhänger des vor etwa 50 Tagen gekreuzigten Jesus von Nazareth hören ein gewaltiges Brausen und erleben eine kollektive Vision von Flammenzungen, die sich auf sie senken. In fremdartigen Sprachmustern loben sie Gott und schreiben dies dem Heiligen Geist zu. In der Öffentlichkeit erzählen sie, ihr Anführer sei von den Toten auferstanden. Die Einheimischen sagen: «Sie sind betrunken.» Dieses Urteil ist zwar falsch, doch hinterfragen lässt sich die Sache schon. Spirituelle Faszination, ekstatische Phänomene und kollektive Visionen gab und gibt es zu allen Zeiten und in allen Religionen. Solches kannten sowohl die keltischen Druiden als auch die sufistischen Derwische im Islam – bis heute.

Heiliger Geist!

Doch die Apostelgeschichte erzählt weiter. Aus allen Nationen sind für das Fest jüdische Pilger zusammengekommen. Staunend stellen sie fest: «Wir hören diese Leute in unseren Muttersprachen.» Ein neues Verstehen ist entstanden, eines, das auch der ganz normale Mensch nachvollziehen kann. Damit verändert sich eine Geist-Erfahrung in eine Heilig-Geist-Erfahrung. Nach einer eindrücklichen Predigt des Petrus wenden sich viele Menschen einer neuen Lebens- und Glaubenspraxis zu. Sie lassen sich auf die «Jesus lebt»-Botschaft ein.

Das ist das Wunder: Neues Verstehen und neue Lebensgestaltung im Namen Jesu Christi: «An den Früchten werdet ihr sie erkennen.» Die Gemeinde wurde aufgebaut. Dieses Kriterium ist auch heute relevant. Vergessen ging es zum Beispiel bei den Heilungsgottesdiensten, wie sie in Zürich-Seebach um das Jahr 1997 praktiziert wurden, mit einer Heilungspastorin aus den USA. Die Gemeinde geriet nahe an den Kollaps. Paulus meint lapidar: «Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern des Friedens.»

Und der Jugendliche vom Osterfest im Emmental? Nach langer Pause praktiziert er heute, als älterer Mann, hie und da erneut das «Zungenreden» – ganz privat. Weil es spirituell bereichert und emotional wohl tut. Übrigens spreche ich von mir selber.

Text: Rolf Kühni, Pfarrer i. R., Sargans | Foto: Jens Schulze, epd-bild – Kirchenbote SG, Mai 2021

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