News aus dem Kanton St. Gallen

«Die Wahrheit zu sagen ersetzt die Rache»

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24.03.2020
Als Kind wurde Christina Krüsi regelmässig von mehreren Männern vergewaltigt. Der Weg zur Versöhnung mit sich selbst war langwierig und hart – aber erfolgreich.

Frau Krüsi, Ihre Kindheit war die Hölle. Sie sind in Bolivien auf einer Missionsstation aufgewachsen und wurden über Jahre brutal missbraucht. Wie haben Sie das überstanden?

Christina Krüsi: Ich habe nur überlebt durch meine Fantasie, indem ich in eine andere Welt abtauchen konnte. Ich entwickelte eine Geheimschrift, in der ich aufschreiben konnte, worüber ich nicht zu sprechen wagte. Auch die Bilder, die ich malte, waren eine Art Geheimsprache. Und ich hatte das Glück, als widerstandsfähiges Mädchen geboren worden zu sein. Ich habe einen starken Willen. Es gab auf der Missionsstation auch eine liebevolle Frau, Aunt Lilly, die sich um mich gekümmert hat. Sie hat mir das Leben gerettet.

Mit zehn Jahren haben Sie einen Suizidversuch begangen. Nun sind Sie eine fröhliche, selbstbewusste Frau. Wie haben Sie es geschafft, mit sich ins Reine zu kommen?

Krüsi: Mit 34 habe ich begonnen, über die Missbräuche zu sprechen. Ich habe es vorher schon versucht, aber ich wurde nicht gehört, oder man hat mir nicht geglaubt. Danach brauchte ich sicher fünfzehn Jahre, um das Geschehene zu verarbeiten – Stück für Stück, und dann Pause. Sonst hält man es nicht aus.

Wie haben Sie es verarbeitet?

Krüsi: Durch meine Kunst. Beim Malen kommt die Seele raus. Ich habe eine Bilderfolge gemalt, von einem Menschen, dem eine hässlichen Spinne zum Mund rausquillt. Am Schluss hat sich der Mensch mit der Spinne versöhnt – er lacht, während die Spinne auf dem Kopf sitzt. Es dauert lange, bis ich eine solche Bilderfolge gemalt habe, und ich mache dabei viel durch. Aber das hilft mir, mich mit meiner eigenen Spinne zu versöhnen, mit mir selber Frieden zu finden.

Schon als Kind fanden Sie Symbole und Geschichten, um die Missbräuche zu verarbeiten. Zum Beispiel die Geschichte von Daniel und der Löwengrube. Dort landen die Täter zuletzt selbst in der Löwengrube. Dieser Racheaspekt stand aber im Hintergrund. Weshalb?

KrĂĽsi: Ich hatte immer wieder RachegelĂĽste, keine Frage. Meine Wut brachte ich aufs
Papier, sie floss in meine Bilder ein. Und für mein Umfeld war es auch nicht einfach, das hat einiges abgekriegt. Aber ich merkte: Die Wut frisst mich auf. Es ist nicht die Rache, die mich weiterbringt, sondern die Wahrheit. Die Täter haben uns Opfern eingebleut, zu schweigen, sonst brächten sie uns um. Deswegen hatte ich noch zwanzig Jahre danach panische Angst, darüber zu sprechen. Doch nun sitze ich nicht mehr aufs Maul. Dass ich reden kann, dass man mir zuhört und glaubt, hat meine Rache ersetzt.

Haben sich Täter bei Ihnen entschuldigt?

Krüsi: Nein. Aber ich habe einen Brief von der Frau eines Haupttäters erhalten, nachdem er verstorben war. Sie entschuldigte sich, es tue ihr leid. Das hat mir sehr gut getan. Jede Entschuldigung ist eine Erlösung.

Sind Sie jemals einem Täter wieder begegnet?

Krüsi: Nicht in Form einer Gegenüberstellung, das wäre traumatisierend. Ich bin aber auf der Strasse zufällig einem Täter begegnet. Wir beide sind erstarrt. Dann habe ich mich umgedreht und bin weggelaufen. Ich bekam fast keine Luft mehr, habe nur noch gezittert und bin nach Hause gegangen und habe geweint.

Aber Sie haben sich innerlich mit den Tätern versöhnt, ohne ihnen zu begegnen?

Krüsi: Das war ein langer, schwieriger Prozess. Den Tätern zu vergeben – okay, geht vielleicht, aber sie zu lieben? Unmöglich! Dann habe ich mir überlegt, wo es mir leichtfällt, zu lieben – nämlich bei Kindern. Da
habe ich mir die Täter als Kinder vorgestellt, mit acht oder neun Jahren. Bei dieser Vorstellung kommen mir jetzt noch beinahe die Tränen. Das brachte mir Heilung. 

Interview | Foto: Stefan Degen – Kirchenbote SG, April 2020 

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